Rezension

Wehe, wenn die Geister lächeln...

Phantasmen - Kai Meyer

Phantasmen
von Kai Meyer

Zum Inhalt:

Eines Tages tauchten sie aus dem Nichts auf – die Geister der Toten. Millionen auf der ganzen Welt, und stündlich werden es mehr. Sie stehen da, bewegungslos, leuchtend, ungefährlich.
An der Absturzstelle eines Flugzeugs, mitten in Europas einziger Wüste, warten zwei junge Frauen auf die Geister ihrer verunglückten Eltern. Rain hofft, die Begegnung wird ihrer jüngeren Schwester Emma helfen, Abschied zu nehmen. Auch Tyler, ein schweigsamer Norweger, ist auf seinem Motorrad nach Spanien gekommen, um ein letztes Mal seine große Liebe Flavie zu sehen.
Dann erscheinen die Geister.
Doch diesmal lächeln sie.
Und es ist ein böses Lächeln. (© Carlsen)

Meine Meinung:

Geister, die an den Stellen auftauchen, an denen die Menschen einst gestorben sind. Geister, die sich nicht bewegen, aus der Körpermitte heraus leuchten und so dem Totenlicht seinen Namen gegeben haben. Super. Mit seiner Idee konnte Kai Meyer mich direkt einfangen – und dass im Prinzip schon als ich lediglich den Klappentext las und von der ersten Seite des Buches noch ziemlich weit entfernt war. Seit ich also erfahren hatte, dass es ein neues Jugendbuch des Autors geben wird, stieg die Vorfreude fast täglich.

“Wie alle Geister hatte er sein Gesicht der Sonne zugewandt. Das war die einzige Bewegung, zu der sie fähig waren. Drehten sich unendlich langsam mit der Sonne von Osten nach Westen, blieben dabei auf der Stelle stehen, sagten nichts, taten nichts. Blickten nur mit leeren Mienen mitten ins Licht, als erinnerten sie sich an etwas, das sie schon einmal gesehen hatten.” (Seite 13)

Zu meiner großen Freude merkte ich recht schnell, dass ich “Phantasmen” verfallen bin. Und noch eines war mir recht schnell klar: Der Autor belässt es nicht bei seiner starken und einfallsreichen Grundidee. Er spinnt diese immer weiter, lässt neue Aspekte einfließen und gestaltet sie weit reichender, als es zunächst den Anschein hat und verleiht ihr einen gruselig wirkenden Touch.

Mit Rain, ihrer jüngeren Schwester Emma, und dem Norweger Tyler schickt der Autor Charaktere ins Rennen, die er nicht bis ins kleinste Detail beschreibt. Meiner Meinung nach ist dies auch gar nicht nötig. Man erfährt trotzdem genug und mir gelang es dennoch problemlos, mich in sie, ihre Gedanken und Taten hineinversetzen zu können. Die Nebenfiguren runden die Geschichte der Phantasmen wunderbar ab und passen hervorragend ins Gesamtbild – gut ausgeklügelte Charaktere, von denen jeder einen gewissen Anteil an der Geschichte hat.

“Dann waren sie da, von einem Augenblick zum nächsten.
Nichts hatte ihr Kommen angekündigt. In einem weiten Radius wurde die Wüste abrupt in Helligkeit getaucht. Buschwerk warf verästelte Schlagschatten über den Sand. Außerhalb des Totenlichts reflektierten Tieraugen den grellweißen Schein.” (Seite 31/32)

Spannend und mitreißend beginnt die Geschichte. Gleichermaßen geht es dann eigentlich auch die ganze Zeit über weiter. Der Punkt, an dem die Eltern von Rain und Emma als Geister erscheinen und mit all den anderen Opfern des Flugzeugabsturzes plötzlich anfangen, böse zu lächeln, ist recht früh erreicht. Somit gibt es ausreichend Platz für weitere Fragen und Mysterien. Und diesen Platz weiß der Autor hervorragend zu füllen.

Der Fokus der Geschichte verschiebt sich dadurch leicht, verliert aber dennoch nie den Ausgangspunkt aus den Augen. Auch, wenn dann am Ende doch alles ganz anders zu sein scheint, als man anfangs noch dachte. Das geheimnisvolle und böse Lächeln der Erscheinungen ist dabei nicht bloß für die Akteure im Buch ein Rätsel. Auch in meinem Leserkopf sammelten sich Fragen über Fragen. Auf die Antworten musste ich lange warten, doch sie kamen. Zugegebenermaßen habe ich auf den ersten Blick, beim ersten Lesen der aufklärenden Sätze, nicht immer alles gleich begriffen. In der Gesamtheit war jedoch alles schlüssig.

“Eine graue, spindeldürre Gestalt tauchte auf allen vieren aus dem Dunkel auf. Die Proportionen waren falsch, Arme und Beine viel zu lang, der Torso zu klein, der Kopf ein hängendes, haariges Ding. Das Wesen schrie sich die Lunge aus dem Hals, es war ein hoher, nicht enden wollender Ton.” (Seite 176)

Es gab eine Stelle in dem Buch, an der ich für einen Moment nicht mehr weiter lesen konnte. Dieses Ereignis hat zwar mit der Geschichte zu tun, ist aber kein elementar wichtiger Punkt. Und doch wurde mit diesen wenigen Sätzen mein ganzes Lesegefühl umgekrempelt. Als ich den Moment, in dem mir fast die Luft weggeblieben ist, hinter mir hatte, konnte ich nur staunen, was Kai Meyer mit dieser Szene in mir ausgelöst hat. Dieses starke Empfinden beruht in erster Linie zwar auf meinen persönlichen Gedanken und Emotionen an einen ganz bestimmten Tag – doch ich kann mir gut vorstellen, dass es vielen (vor allem Erwachsenen, die jenen Tag ähnlich bewusst wie ich in Erinnerung haben) nicht viel anders gehen wird. Kai Meyer beschwört mit seinen Worten in dieser Szene einfach unglaubliche Bilder hinauf. Und mich haben sie einen Moment sprachlos gemacht.

Alles in allem punktet “Phantasmen” mit einer fantastischen Idee, tollen Charakteren, in die man sich hineindenken und auch fühlen muss, um sie vollends verstehen zu können, einer spannenden Story, der zu keinem Zeitpunkt die Luft ausgeht und einem Ende, das nach dem großen Showdown im ersten Moment vielleicht zu schlicht, im Endeffekt aber genau passen ist.

“Zweihundertdreißig Geister, die für alle Zeit am Himmel hingen. Sie standen aufrecht in der Luft, immun gegen die eisigen Temperaturen und Stürme, mehrere Tausend Meter hoch über dem Atlantik. Männer, Frauen und Kinder, die alle innerhalb eines Augenblicks in einem Feuerball ums Leben gekommen waren.” (Seite 275)

Ich war bereits von meinem ersten Buch von Kai Meyer “Asche und Phönix” begeistert. Mit “Phantasmen” hat sich der Autor jetzt auf die Liste meiner Lieblingsautoren geschrieben. Wirkliche Kritikpunkte kann ich nicht benennen, weil ich schlicht und einfach keine gefunden habe – von der einen oder anderen, kleinen Verständnisschwierigkeit, wie oben erwähnt, mal abgesehen. Für mich ein rundherum gelungenes Jugendbuch und eine klare Leseempfehlung.

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