Rezension

Wenn alte Traditionen und fanatischer Missionierungseifer aufeinanderprallen

Blauer Hibiskus - Chimamanda Ngozi Adichie

Blauer Hibiskus
von Chimamanda Ngozi Adichie

Bewertet mit 5 Sternen

Kambilis Vater verdankt katholischen Missionaren in Nigeria alles, seine Schulbildung, seinen wirtschaftlichen Aufstieg und damit auch sein Ansehen als Unternehmer und spendabler Dorfvorsteher. Seine Bildung ist hart erkämpft; denn schon während seiner Schulzeit hat er als Gärtner für seinen Lebensunterhalt gearbeitet. Seine Gottesfurcht gibt der Mann mit gnadenloser Härte an Frau und Kinder weiter; alle drei tragen die Narben seiner Misshandlungen. Leben, arbeiten und glauben müssen die Kinder nach einem strengen Plan. Von Kambili wird erwartet, dass sie in jedem Schuljahr die Klassenbeste ist - und wehe, sie erreicht mit ihren Noten einmal nur den zweiten Platz! Wer so fern von dem aufwächst, was andere Jugendliche interessiert, hat in Kambilis Klasse nichts zu lachen. Der Kontakt zum Großvater und zur Schwester des Vaters ist den Kindern verboten, um sie vor der Igbo-Sprache und der Kultur der Vorfahren zu bewahren. Alles Aberglauben, findet der Vater.

"Papa kam auf Jaja zu. Er sprach jetzt nur noch Igbo. Ich rechnete damit, dass er ihm die Ohren langziehen würde, dass er ihn im Takt seiner Worte stoßen und zerren würde, dass er Jaja ins Gesicht schlagen und seine Hand dasselbe Geräusch machen würde, wie wenn in der Schule ein Buch von Bücherregal fällt. Und dann würde er mich packen und mich mit derselben Beiläufigkeit ins Gesicht schlagen, mit der er nach der Pfeffermühle griff. Doch er sagte nur: "Ich möchte, dass ihr fertig esst und dann in eure Zimmer geht und um Vergebung bittet", drehte sich um und ging die Treppe wieder hinunter. Die Stille, die er zurückließ, war schwer, aber angenehm, wie eine ausgebeulte kratzige Strickjacke an einem kühlen Morgen." (S. 76/77)

Bisher mussten Kambili und Jaja völlig abgeschnitten von der Igbo-Tradition leben und ohne Kontakt zu ihren Cousins und Cousinen. Die erste von der Tante (gegen den Willen ihres Bruders) eingefädelte bewusste Begegnung der Kinder mit ihrem Großvater Nnukwu zeigt ihn als betagten, lebensfrohen Mann, für den der Gesang wichtiger Bestandteil seiner Tradition ist. Die verwitwete Tante verdient als Dozentin an der Uni den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder. Der Besuch bei ihrer Tante Ifeoma ist in vielerlei Hinsicht ein Schock für Kambili; Ifeoma verhält sich gegenüber jedermann reichlich respektlos - und sie hat ihren Bruder noch nie wie einen Heiligen behandelt. In Ifeomas kleinem Haushalt, in dem nun zusätzlich zu Reissack und Propangasflasche zwei weitere Schlafstellen für die Besucher gezwängt werden müssen, wird den Jugendlichen deutlich, wie schwer der Alltag für ihre Tante zu bewältigen ist. Im Wohlstand und mit Hauspersonal aufgewachsen haben beide noch nie darüber nachgedacht, wo Wasser, Brennstoff und Lebensmittel herkommen. Die Unbeschwertheit und Zuversicht in Ifeomas Familie verdeutlicht aber auch, wie klein sich Kambili und Jaja bisher unter dem Druck ihres Vaters gemacht haben.

Beginn und Ende des Romans beschreiben ein Ereignis am Palmsonntag, während der Hauptteil auf die Ereignisse vor diesem Tag zurückblickt. Die knapp sechzehnjährige Icherzählerin Kambili wirkt zunächst wie ein verängstigtes Kind, dem außerhalb des Elternhauses ohne die strengen Anweisungen des Vaters jeder Rückhalt zu fehlen scheint. Durch die Begegnung mit Großvater und Tante findet Kambili zu den Wurzeln ihrer Kultur, und auch Jaja, der anfangs im Roman eine Nebenrolle zu spielen scheint, durchläuft eine erstaunliche Entwicklung. Die Lebensbedingungen Ifeomas und Ereignisse um die Tageszeitung, die der Vater herausgibt, spiegeln Nigerias Alltag in politisch und wirtschaftlich unruhigen Zeiten. Wie sich Kambilis und Jajas Blick vom Konflikt mit ihrem starrsinnigen, gewalttätigen Vater zuerst auf ihre erweiterte Familie und im nächsten Schritt auf die Situation ihre Landes weitet, macht Adichies 2003 erschienen ersten Roman zu einem besonderen Leseerlebnis.