Rezension

Wenn aus einem tiefen, inneren Gerechtigkeits-Wunsch eine grandiose, nachhaltige Aktion wird

Das Novembermädchen - Katrin Tempel

Das Novembermädchen
von Katrin Tempel

Bewertet mit 5 Sternen

Ein beeindruckender, bewegender historischer Roman über eine starke, energische, hilfsbereite, selbstbewusste Frau im ausklingenden 19. Jhd., der nachdenklich stimmt

Breslau, Mitte des 19. Jahrhunderts: Lina Bauer stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Familie und lernt mit 16 Jahren den kaufmännischen Lehrling Theodor Morgenstern kennen und lieben. Trotz des elterlichen Widerstandes heiraten die beiden acht Jahre später und ziehen nach Berlin, wo Theodor ein Mode-Kaufhaus eröffnet, welches allerdings nicht den erhofften Profit abwirft. Um die Haushaltskasse aufzubessern schreibt Lina Morgenstern Biographien und Kinderbücher, Theodor unterstützt sie im Haushalt.

Lina, der schon immer die Armut und das Elend vieler Menschen in Berlin ein Dorn im Auge war, wird mit einem einschneidenden Erlebnis im Mai 1866 am Vorabend des Kriegsausbruchs Preußen gegen Österreich konfrontiert. Sie findet ein ausgemergeltes, ausgehungertes und vernachlässigtes Mädchen auf der Straße. Mit dem Gedanken, dass ihr vor Jahren auch schon die Gründung eines „Pfennigvereins zur Unterstützung armer Schulkinder“ geglückt war, beschließt sie, dass auch hier Initiative ergriffen werden muss. In ihr reift die Idee, dass wenn man größere Mengen an Nahrungsmittel einkauft, auch einen günstigeren Einkaufspreis erzielen kann. Letztendlich kann man so auch täglich eine warme und gesunde Mahlzeit günstig anbieten. Geboren ist die Idee zur „Berliner Volksküche“. Ein steiniger, beschwerlicher Weg beginnt, Mitstreiter für diese Idee zu finden. Dank ihres Ehrgeizes,ihrer Hartnäckigkeit und ihrer Überzeugungskunst gelingt es ihr, Unterstützer zu finden, so dass bereits einen Monat später die Gründung des „Vereins der Berliner Volksküchen“ umgesetzt wird.

Der Erfolg gibt ihr Recht. Immer mehr Menschen suchen dies Küchen auf, so dass gut eineinhalb Jahre später bereits die sechste Küche errichtet wird. Insgesamt können an die 5000 Speisen pro Tag ausgegeben werden. Eine wichtige Befürworterin ihrer Volksküchen findet Lina in der Königin Augusta, die sie auch finanziell unterstützt. Linas unermüdlicher Einsatz und ihre Aufopferung werden mit hoher Achtung betrachtet, aber dennoch wird sie von gewissen Personenkreisen auch mit Missachtung und Argwohn beäugt. In der wirtschaftsgebeutelten Zeit wächst der Antisemitismus, so dass Lina vorgeworfen wird, sie würde sich selbst bereichern.

Eine weitere große Herausforderung kommt auf das Organisationstalent Lina und ihren Helferkreis zu als im Sommer 1870 der Krieg zwischen den deutschen Staaten und Frankreich ausbricht und tausende Soldaten, die mit dem Zug durch Berlin auf den Weg zur Front sind, versorgt werden müssen – und das zusätzlich zu ihren Volksküchen. Und die Versorgungsleistung wird noch prekärer als kurz darauf Versehrte und Kriegsgefangene nach Berlin zurückkommen und neben nahrungsmitteltechnischer Versorgung auch noch medizinisch betreut werden müssen. Auch hier hat es Lina schwer ihren Mitmenschen zu verstehen zu geben, dass alle Menschen gleiche Behandlung verdienen – unabhängig davon, was für eine Uniform sie tragen und welche Hautfarbe sie haben.

Meinung:

Das Buch ist absolut empfehlenswert. Ein leichter, flüssiger Schreibstil ermöglicht es, schnell in der Geschichte Fuß zu fassen. Der geschichtliche Hintergrund bildet einen schönen Rahmen und gibt einen guten Einblick in die damaligen politischen, und gesellschaftlichen Geschehnisse, ohne aber zu überladen zu wirken. Im Mittelpunkt bleibt die Hauptprotagonistin Lina Morgenstern, die hervorragend als energische, zielstrebige, hilfsbereite, selbstaufopfernde aber auch teils sture und dickköpfige Frau dargestellt wird. Lina ist in erster Linie für die „Anderen“ da, ihr Wirkungskreis befindet sich außerhalb ihrer eigenen vier Wände, so dass die eigene Familie viel zu kurz kommt. Den Spagat zwischen Familie und Engagement für Frieden und Gerechtigkeit schafft sie nur allzu schwer. Es ist bemerkenswert, dass ihr Mann Theodor trotz alledem hinter ihr steht und bedingungslos hilft, ihre Pläne umzusetzen. Es muss eine wahnsinnige, innige Liebe sein, die diese Lebensidee mitträgt und wachsen lässt. Beim Lesen muss man sich vor Augen halten, dass das Rollenverständnis von Frau und Mann ein ganz anderes war als heutzutage. Frauen hatten im Grunde ihrem Mann zu gehorchen. Ein Mann wie Theodor war auf jeden Fall eine absolute Ausnahme und wurde zweifelsohne in der Gesellschaft extrem belächelt oder sogar verachtet, da er seiner Rolle als „Herr im Haus“ nicht gerecht wurde. Er hatte halt nicht „die Hosen an.“

So ziehe ich nicht nur den Hut vor Lina, die all ihre Kräfte für das Wohl der Armen und Schwachen einsetzte, sondern auch vor Theodor, der sich um Haushalt und Kinder kümmerte, um Lina den Rücken freihielt. Er muss ein wahnsinniges Rückgrat und auch Selbstbewusstsein gehabt haben, da er vom sozialen Umfeld Hohn und Spott geerntet haben muss.

Lina Morgenstern ist ein wahnsinnig dominierender Charakter, ein absoluter Gutmensch, der mir manchmal vorkommt wie ein Übermensch. Aber sie zahlt in gewisser Weise auch ihren Preis, dass gibt ihr klar und deutlich auch hin und wieder ihre Familie zu verstehen.

Der Titel allein verrät nichts über die Geschichte. Der Klappentext schürt die Neugier. Und nach ein paar Seiten des Lesens kommt der Aha-Effekt, so dass man den Titel, dieses bzw. „Das Novembermädchen“ gleich ins Herzen schließen kann. (Mir ging es so.)

Das Cover zeigt Lina vor dem Brandenburger Tor in Berlin, der Hauptwirkungsstätte des Romans. Auch wenn mir das Cover anfangs gut gefallen hat, so bin ich nach dem Lesen der Meinung, dass die Frau zu „zart und weich“ dargestellt ist. Für mich müsste der Blick energischer sein.

Ich finde es gut, dass Lina Morgenstern, aber auch andere Personen durch solche historischen Romane, ein Gesicht bekommen und Wertschätzung erfahren.

Hochachtung, dass es Autoren gibt, die zu solchen Personen zeitaufwendige Recherchen betreiben, um diese zu wahren Persönlichkeiten machen, die einem im Gedächtnis bleiben werden.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass dieser Roman auch verfilmt wird und möglicherweise in einer Filmreihe Platz finden könnte, in der „Starke und außergewöhnliche Frauen“ gewürdigt werden.