Rezension

"Wenn der Vorhang sich öffnet, sprechen die Geister"

Velvet - Mary Hooper

Velvet
von Mary Hooper

*Worum geht's?*
Die junge Velvet hatte es bisher nie leicht in ihrem Leben. Harte Schicksalsschläge haben aus ihr eine gezeichnete Waise gemacht, die nun als Wäscherin versucht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und selbst diese Arbeit ist in Gefahr, denn Velvets geschwächter Körper kann die Last nicht länger tragen. Durch eine glückliche Fügung soll sich nun alles ändern: Die angesehene Madame Savoya wird auf Velvet aufmerksam und möchte sie als Assistentin anstellen. Velvet kann ihr Glück kaum fassen: Sie, ein armes und mittellosen Mädchen, soll im Hause eines berühmten Mediums arbeiten, das für die reichsten Bürger Englands die Geister heraufbeschwört? Völlig fasziniert vom Übernatürlichen - und von Madame Savoyas Gehilfen George - nimmt Velvet die Stelle an. Doch das Geschäft mit den Geistern hat auch seine Schattenseiten...

*Kaufgrund:*
Ich liebe Mary Hooper! Bisher habe ich jedes ihrer Bücher verschlungen und war stets begeistert. Auf "Velvet", eine weitere Geschichte aus dem viktorianischen Zeitalter, habe ich schon lange sehnsüchtig gewartet. Würde mich Hooper auch dieses Mal überzeugen können?

*Meine Meinung:*
"Velvet", Mary Hoopers neuester Roman, spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Königin Viktoria über das vereinigte Königreich herrschte. Hooper nimmt sich erst einmal reichlich Zeit, um ihren Lesern ihre neue Protagonistin Velvet vorzustellen. Man erfährt viel über die junge Frau, ihre Vergangenheit, ihre Eigenschaften und ihre Gefühle, ehe die eigentliche Handlung im Hause Madame Savoyas losgeht. Obwohl die Autorin sich in ihrer Geschichte für jedes mysteriöse Ereignisse viel Zeit und Seiten nimmt, wirkt sie niemals überladen oder langatmig. Jedes beschriebene Detail hat seinen Sinn und macht diesen Roman derart realitätsnah, dass man tatsächlich davon ausgehen könnte, Velvet habe all diese Dinge im Jahre 1900 erlebt. Diese "echte" Atmosphäre ist es, die den Leser an das Buch fesselt, ihn packt und seine Neugierde weckt. Ein wahrer Leseschmaus! Leider hat es Mary Hooper nicht geschafft, mit dieser Art bis zum Ende durchzuhalten. Der Abschluss der Geschichte ist viel zu kurz geraten und hinterlässt beinahe den Eindruck, als hätte die Autorin ihn schnell hinter sich bringen wollen. Dabei bleiben so viele offene Fragen zurück, die es verdient hätten, beantwortet zu werden!

Der primäre Handlungsstrang wird aus Velvets Sicht erzählt. Durch sie erhalten wir die Möglichkeit, uns einen realistischen Eindruck über das England der damaligen Zeit zu bilden. Welche Themen haben England bewegt? Wie haben die Menschen gelebt? Woran haben sie geglaubt? Velvet, ein einfaches Mädchen aus dem Volk, repräsentiert mit ihren Gedanken über die Geschehnisse die Sichtweise fast aller Bürger Englands.

In einigen Kapiteln wechselt die Erzählperspektive. Man erlebt die Geschichte nicht mehr aus Velvets Sicht, sondern nimmt als außenstehender Beobachter an einer von Madame Savoyas privaten Seancen teil. Ihre Kunden tragen dabei Decknamen, um nicht erkannt zu werden. Durch diese aufschlussreichen Einschübe erhält man einen ganz anderen Eindruck von den mysteriösen und geheimnisvollen Kräften des Mediums. Aber auch die Informationen, die Madame Savoya in ihren Sitzungen von ihren Kunden erhält, sind für den weiteren Handlungsverlauf nicht unwichtig - einige Geheimnisse warten noch darauf, entdeckt zu werden!

Die Protagonistin Velvet hat mich einige Nerven gekostet und mich in einem Zwiespalt zurückgelassen. Anfangs war ich völlig hingerissen von dieser sympathischen und starken jungen Frau! Obwohl sie es bisher nie leicht in ihrem Leben hatte, lässt sie sich nicht unterkriegen und kämpft für eine emanzipierte Zukunft. Velvets größter Traum ist ein eigenständiges Leben und keine Hochzeit, wie es für Mädchen in ihrem Alter üblich ist. Im Laufe der Geschichte geht ihr starker Charakter jedoch verloren. Er wird durch eine kindliche Naivität ersetzt, die zu Beginn noch nachvollziehbar und amüsant ist, mit den Seiten aber immer anstrengender wird. In meinen Augen hat Hooper an dieser Stelle einen falschen Fokus gesetzt und somit einige interessante Ecken Velvets unbeachtet gelassen. Allen Kritikpunkten zum Trotz ist sie dennoch eine originelle und liebenswerte Hauptfigur, die man schnell ins Herz schließt!

Im Vergleich zu Velvet haben mir die Nebencharaktere des Romans erheblich besser gefallen. Sie sind nicht so wankelmütig wie die junge Protagonistin, sondern reifer und in ihren Charakterzügen gefestigter. Dies macht sie zu insgesamt ausdrucksstärkeren Figuren, soll aber nicht bedeuten, dass man bei ihnen genau weiß, woran man ist! Viele von ihnen besitzen erstaunliche Facetten, die sich erst im Laufe der Geschichte zeigen. Bei einigen mag das mulmige Gefühl zutreffen, das man als Leser bei manchen Personen verspürt...

Auf den letzten Seiten sind einige Anmerkungen zum geschichtlichen Hintergrund zu finden, die die Autorin selbst verfasst hat. Diese kleinen Erläuterungen sind nicht nur informativ, sie beweisen zudem, wie sehr sich Mary Hooper mit der Geschichte Englands zur Zeit Viktorias auseinandergesetzt hat. Hut ab vor so ausführlicher Recherchearbeit!

*Cover:*
Wunderschön, mysteriös, unheimlich. Kurzum: hervorragend! Hier wurde das englische Originalcover beibehalten und ich bin mehr als dankbar dafür, denn dieses Cover passt perfekt zu "Velvet". Der verschwommene Bildeffekt hat seinen ganz besonderen Reiz; auch Velvet bekommt es zu spüren, was es bedeutet, wenn die Grenze zwischen der Realität und dem Übernatürlichen verschwimmt...

*Fazit:*
Mary Hooper ist und bleibt meine Lieblingsautorin, was historische Jugendromane angeht. Wieder einmal ist ihr eine faszinierende und packende Geschichte gelungen, die vor allem mit Authentizität und Realitätsnähe überzeugen kann. Bloß das viel zu knappe Ende und Velvets Naivität halten mich von einer vollen Punktzahl ab. Insgesamt vergebe ich 4 Sterne.