Rezension

Wenn die perfekte Welt aus den Fugen gerät ...

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte - Rachel Joyce

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte
von Rachel Joyce

Bewertet mit 5 Sternen

Sommer 1972, England: Der 11-jährige Byron Hemmings erfährt von seinem Freund James, dass dem Jahr zwei Sekunden hinzugefügt werden sollen. Ein kleiner "Unfall" beim Frühstück führt dazu, dass Byrons Mutter Diana, Byron selbst und seine Schwester Lucy die Autofahrt zur Schule mit Verspätung antreten. Wegen eines Staus und dichtem Frühnebel nimmt Diana eine Abkürzung, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Während der Fahrt glaubt Byron das Hinzufügen der zwei Sekunden auf seiner Armbanduhr zu sehen - zwei Sekunden, in denen ein Mädchen auf ihrem roten Fahrrad die Straße überquert, zwei Sekunden, die das Leben der drei Insassen für immer verändern werden ...

Aufmachung und Aufbau des Romans (Hardcover, Verlag Fischer Krüger):
Wie schon der Vorgänger von Joyce ist auch dieses Buch in warmen Ockertönen gehalten. Das Ziffernblatt einer Uhr ohne Zeiger ziert das Cover, außerdem noch ein Mädchen auf einem Fahrrad. Die Schriftart orientiert sich auch wieder am Vorgänger, sie ist unkonventionell; Titel und Autor sind mit Relieflack hervorgehoben, was mir sehr gut gefällt, da die Haptik dadurch sehr ansprechend ist. Ich mag es ohnehin, wenn die Buchcover nicht immer nur hochglänzend sind. Negativ fällt mir lediglich die für meinen Geschmack zu reißerische Werbung für das erste Buch auf der Rückseite auf. Ich verstehe zwar die Intention dahinter, schließlich will das Buch verkauft werden, doch hätte dieses Buch das definitiv nicht nötig gehabt.

Der Titel ist meiner Meinung nach gewöhnungsbedürftig. Natürlich macht er auf jeden Fall neugierig und doch finde ich den Originaltitel "Perfect" irgendwie passender. Warum das so ist, will ich an dieser Stelle nicht verraten, doch wird einem beim Lesen schnell klar, warum dieser Titel eigentlich "perfekt" gewesen wäre. In Kapitel 7 wird die Verbindung zum Original-Cover (einer Pusteblume) verdeutlicht. Hier wird beschrieben wie Lucy anhand einer Pusteblume die Zeit bestimmt. Diese Stelle hat mich sehr berührt.

Das Buch ist in 3 Teile gegliedert und die Geschichte wird in zwei Erzählsträngen parallel wiedergegeben. Ein Strang beschreibt den Unfall und seine unmittelbaren Folgen im Jahr 1972, während der zweite Erzählstrang das Leben des 50-jährigen Jim in der Gegenwart beleuchtet. Kapitelweise wechseln sich die beiden Erzählungen ab und erst zum Ende hin werden sie von Joyce gekonnt zusammengefügt. Diese Art zu Erzählen hält die Spannung unheimlich hoch, zudem Joyce anfangs immer neue Fragen aufwirft, ohne diese zunächst zu beantworten. So rast man förmlich durch die Kapitel, immer auf Antworten hoffend.

Mein Eindruck:
Rachel Joyce hat einen unglaublich feinfühligen Schreibstil. Ihre Worte berühren und hallen noch lange nach. Die Art und Weise wie sie den Leser durch die Geschichte führt, die Personen vorstellt und dabei im Hintergrund ganz leise andeutet, dass etwas Bedeutendes geschehen wird, ist sehr faszinierend. "Eines Tages - wenn nicht jetzt, dann in der Zukunft - würde jemand dafür bezahlen müssen." (Zitat S. 53) Mich konnte die Geschichte von der ersten Seite an fesseln, ich hatte beim Lesen ständig das Gefühl, dass es Wendungen geben wird, die man nicht erwartet und die einen schockieren werden (positiv wie negativ). Die Handlungsträger im Buch sind jeder für sich ausnehmend gut beschrieben. Vom Vorgängerbuch wusste ich, dass man beim Lesen von Joyce´s Geschichten vorsichtig sein muss mit vorschnellen Urteilen und Einschätzungen und auch hier zeigte sich, dass die Personen immer einen Hintergrund haben, der sie so handeln lässt wie sie es tun. Ihre Beweggründe erschließen sich dem Leser nicht immer gleich, doch lohnt es sich, sie und ihr Tun nicht vorschnell zu bewerten.
"Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte" ist ein nachdenkliches und gefühlvolles Buch. Joyce nimmt jedoch in einigen Kapiteln die Schwere heraus, indem sie wunderschöne (Zweiter Teil, Kapitel 19) und auch lustige Momente kreiert (Zweiter Teil, Kapitel 8, S. 255). Der Leser durchlebt ein Wechselbad der Gefühle mit wichtigen Erkenntnissen: "Ein und dasselbe konnte mehrere Bedeutungen haben, sogar gegensätzliche. Nicht alles hatte ein Etikett. Oder wenn es eines hatte, musste man bereit sein, es von Zeit zu Zeit neu zu begutachten und vielleicht ein anderes danebenzukleben. Die Wahrheit gilt nie ewig und traf den Kern immer nur mehr oder weniger - mehr konnte sich ein menschliches Wesen wohl nicht erhoffen." (Zitat, S. 363/364)

Fazit:
Joyces Geschichte braucht Zeit und Raum, um sich zu entwickeln, lässt man sich darauf ein, so wird man letztlich belohnt werden. Was bleibt sind Demut und Hoffnung und etliche Stunden Lesegenuss. 5 von 5 Sternen - lesenswert!

Kommentare

fio kommentierte am 19. Dezember 2013 um 17:15

Eine tolle Rezension!!! Gefällt mir sehr!

yvy kommentierte am 19. Dezember 2013 um 18:23

Danke, habe gerade die Deine gelesen und mehr dazu im Kommentar. ;-)