Rezension

Wenn die Realität schwer zu ertragen ist, spendet ein gutes Buch Trost und neue Ideen

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
von David Whitehouse

Bewertet mit 5 Sternen

Eine Flucht aus der Ohnmacht einer unglücklichen Welt, aus einer „ermüdenden Leere“. Eine Flucht dorthin, wo es Liebe gibt. Ein wunderbares Buch mit viel Poesie!

Die Reise mit David Whitehouse startet mit einer Reihe von Szenen voller Aussichtslosigkeit. Grausige Schicksale verflechten sich gleich am Anfang miteinander: das Schicksal eines halb verwaisten Kindes, einer einsamen Mutter mit behinderter Tochter und kurz darauf mischt sich ein Schwerverbrecher unter die Protagonisten. Es wird ein Bücherbus (eine mobile Bücherei) gestohlen, ein Kind entführt, ein anderes schwer verletzt und ein mutmaßlicher Mörder treibt sein Unwesen. Doch, Seite für Seite stellt sich heraus, dass in diesem Buch nichts so ist, wie es scheint.

„Brave“ Schüler mutieren zum Quälgeister, ein bester Freund wird zum Cyborg, ein liebloser, alkoholkranker Vater schlägt sein vernachlässigtes Kind und die darauf folgenden Ereignisse sind auch selten frei vom Verbrechen. Die Bewertung dieser Taten fällt jedoch verschieden aus. In diesem Buch werden Diebstahl, Hausbesetzung und Kindesentführung moralisch annehmbar gemacht. Wie es dazu kommt? Dafür sorgen die ungewöhnlichen, mitleiderregenden Umstände, aus denen sich die Protagonisten während ihrer Reise Schritt für Schritt befreien: Der pure Überlebenskampf um einige schöne Tage miteinander zu verbringen.

Nach diesem ersten Eindruck und nach der bildhaft geschilderten Düsterkeit ist wohl leicht anzunehmen, dass die dargestellte Realität schlichtweg deprimierend wirkt. Das entspricht jedoch wieder nicht ganz der Wahrheit. Nicht nur die Geschichtsführung, sondern auch die Ausdrucksweise von David Whitehouse ist eigenwillig und diese Kombination bringt wahrhaft beeindruckende Beschreibungen hervor. Seine Darstellung ist sehr „wohldurchdacht und mit so viel Poesie“. Nur ein Beispiel: Vals (eine der Hauptdarstellerinnen) Lippenbewegungen folgen „genau im Takt mit Bobbys Herzschlag“ – eine wundervolle Veranschaulichung der Gemeinsamkeit.

Weitere Stil-Perlen, um nur einen kleinen Vorgeschmack ohne Anspruch auf die Vollständigkeit anzudeuten: „trostspendende Fürze“ (eines Lehrers), „Seelenlotsenlicht“ (Hoffnung), „kränkliches, todbringendes Gelb“ (die Wände im Schulbüro) und das Cheshire-Katzen-Grinsen des Hundes im Bezug auf die Geschichte „Alice im Wunderland“. Genial!

Die Lage der Hauptfiguren lässt eine Tragödie vermuten, es herrscht eine ständige Spannung im Hintergrund, die Erzählweise bleibt dennoch ruhig. Auch der Ausgang der stets bedrohlichen Ereignisse bleibt bis zum Schluss unkalkulierbar.

Ob schließlich eine Katastrophe abgewendet werden kann? Unter ständigem Wechsel von qualvollen und beängstigenden – oft sogar skurrilen – Szenen mit einem liebevollen, familiären Miteinander bleibt die Hoffnung auf ein Happy End aufrecht erhalten.

„Die Reise mit dem gestohlenen Bibliothek“ ist eine unglaublich starke Erzählung mit viel Herzenswärme und mit gut proportionierter Spannung. Gleichzeitig eine Flucht aus der Ohnmacht einer unglücklichen Welt, wie David Whitehouse es so treffend formuliert, aus einer „ermüdenden Leere“. Eine Flucht dorthin, wo es Liebe gibt.