Rezension

Wenn die Realität unfassbarer ist, als es ein Krimi jemals sein könnte

Die schützende Hand
von Wolfgang Schorlau

Bewertet mit 5 Sternen

Schorlau gelingt mit diesem Krimi das Kunststück, die Thematik - die Ungereimtheiten des NSU-Komplexes und die Verstrickungen von Staatsschutzbehörden und Neonazi-Szene - für ein breites Publikum zu öffnen. Mit diesem Dengler-Krimi bietet Schorlau den Lesern ein spannendes Sprungbrett hinein in die Wirren des NSU-Komplex, ein Anstoß zum weiteren Recherchieren und Denken- für mich eine großartige Leistung!

Privatermittler Dengler erhält von einem mysteriösen Unbekannten den (wahnsinnig gut bezahlten) Auftrag zu ermitteln, wer Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen hat. Die Leichen der beiden wurden am 04.11.2011 in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach entdeckt. Damit wurde zugleich auch die Existenz des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bekannt, einer rechtsextremen Terrororganisation, von der bis dahin (angeblich) weder Polizei noch Verfassungsschutz etwas wussten. Mit Hilfe seiner Freunde setzt Dengler nach und nach ein Puzzle zusammen, das zeigt, dass die offiziellen Angaben der Ermittlungsbehörden zu den Abläufen am 04.11.2011 nicht stimmen können und das tiefe Verstrickungen zwischen Neonazi-Szene und Verfassungsschutz offenbart: Ein gefährliches Wissen.

Wolfgang Schorlau bedient sich des realen Falles des NSU und strickt einen spannenden Krimi mit seinem Privatermittler Dengler um die realen Begebenheiten herum. Den tatsächlichen Ungereimtheiten zum NSU-Komplex, die im Rahmen von Untersuchungsausschüssen und bei der Auswertung geleakter Akten ermittelt wurden, setzt Schorlau ein fiktives Szenario über die Hintergründe der Verstrickungen von Staatsschutz und Neonazis hinzu, dass er insgesamt stimmig herleitet.

Die recht komplizierte Spurensuche wird durch das gemeinsame Zusammentragen und Diskutieren von Fakten und Widersprüchlichkeiten zwischen Dengler und seinen Freunden aufgelockert. Die Einbindung von seinen Freunden in die Ermittlungen ist ein gelungener dramaturgischer Einfall, der das schwierige Thema für den Leser zugänglicher macht. 

Schorlau schlägt geschickt einen großen Bogen und beleuchtet durch verschiedene Handlungsstränge und Personen unterschiedliche Facetten des Themas: Die Wurzeln des Rechtsextremismus in BRD und DDR, der Umgang der Geheimdienste damit und das Verhältnis zwischen Geheimdiensten und Politik.

Die Abgrenzung zwischen Realität und Fiktion ist meiner Ansicht nach gut gelungen: Die realen Ungereimtheiten des NSU-Komplexes werden durch Fußnoten dokumentiert (z.B. Hinweise auf die diversen Untersuchungsausschüsse und die Auswertung geleakter Akten). Schorlaus fiktives Szenario der Hintergründe grenzt sich dadurch ab.

Die in manchen Zeitungs-Feuilletons geäußerte Kritik, Schorlau bringe kein neues Licht in das Dunkel des NSU-Komplexes, kann ich nicht nachvollziehen. Sicherlich, die Erkenntnisse seines Ermittlers Dengler basieren auf bereits vorliegenden Erkenntnissen der diversen Untersuchungsausschüsse und der Auswertung geleakter Akten und sind auch nicht vollständig. Aber es wäre auch zuviel verlangt von einem Krimi, dass er dort alle Hintergründe aufklärt, wo es bisher noch niemandem gelungen ist.

Das Buch lässt den Leser fassungslos zurück - mit welcher Dreistigkeit gehen Polizei und Verfassungsschutz über die offensichtlichen Ungereimtheiten hinweg und stellen in Ermittlungsberichten und vor Untersuchungsausschüssen offensichtlich Unwahres dar. Im Laufe des Buches relativiert sich dadurch für mich die anfängliche Kritik von Denglers Freundin Olga (auf der Suche nach der Wahrheit über die "Selbstmorde" von Böhnhardt und Mundlos würden die Täter reingewaschen, die Täter zu Opfern stilisiert): Den Angehörigen der Opfer des NSU steht eine umfassende Aufklärung aller Hintergründe der Taten, aber auch über das Ende des NSU zu!

Schorlau gelingt mit diesem Krimi das Kunststück, die Thematik - die Ungereimtheiten des NSU-Komplexes und die Verstrickungen von Staatsschutzbehörden und Neonazi-Szene - für ein breites Publikum zu öffnen. Mit diesem Dengler-Krimi bietet Schorlau den Lesern ein spannendes Sprungbrett hinein in die Wirren des NSU-Komplex, ein Anstoß zum weiteren Recherchieren und Denken- für mich eine großartige Leistung!