Rezension

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Wenn die relevanten Kräfte des Landes nur wollten ...

Zuhause in Fukushima
von Judith Brandner

Persönlich, ungewohnt, erschütternd: Momentaufnahmen aus Fukushima zwei Jahre nach der Katastrophe

11. März 2011: Die Bilder der doppelten Katastrophe durch den Tsunami und das leckgeschlagene Atomkraftwerk Fukushima gehen um die Welt und hinterlassen die Weltöffentlichkeit zutiefst betroffen und in zunehmender Skepsis an der Technologie der Kernkraft. Zwei Jahre später bereist Judith Brandner das Land, um die tiefen Spuren nachzuvollziehen, die dieses Ereignis in die Lebensläufe der Menschen vor Ort gegraben hat.

Hörern des Radiosenders Ö1 ist die Autorin als vertraute Stimme aus Nachrichten und tiefgehenden Reportagen bekannt. In ihrer Sammlung von Interviews mit Menschen aus Fukushima und der Umgebung verleiht sie diese Stimme nun jenen, deren eigene in der tosenden Brandung der Hilferufe untergehen würde. Mit dem Land Japan fühlt sie sich durch ein Studium der Japanologie, sowie zahlreiche Aufenthalte im Land und entsprechende Lehraufträge an japanischen und österreichischen Universitäten verbunden.

Über eine Biobäuerin, einen Komponisten und eine Kindergärtnerin aus Fukushima selbst, über eine Umweltaktivistin und eine Barbesitzerin in Kyoto bis hin zu Malern und Journalisten in der Hauptstadt Tokyo, Judith Brandner läßt verschiedene Persönlichkeiten zu Wort kommen, deren Leben in unterschiedlichem Ausmaß von der Katastrophe beeinflußt wurden. Dabei stößt sie auf viele Gemeinsamkeiten, von denen trotz der individuellen Biographien die Strategien im Umgang mit den Geschehnissen bestimmt werden:

Obwohl die Bewohner der Region unter den Folgen der Katastrophe zu leiden haben, scheint ihnen eine Mentalität der Duldung innezuwohnen. Sie proben nicht aktiv den Aufstand gegen offizielle Stellen, sondern konzentrieren ihre Anstrengungen auf die Veränderung der Zukunft. Etwa über den Weg der Musik setzen sie darauf, der Generation ihrer Kinder Hoffnung, ein differenziertes Bild der Welt zu vermitteln.

Auch verwehren sich die Gesprächspartner der Autorin gegen monokausale Ursachen. Nicht die Regierung oder der Kraftwerksbetreiber allein trügen die Schuld an der Verstrahlung ihrer Heimat, sondern vielmehr ein Bedürfnis nach immer mehr Wohlstand und der damit einhergehende Stromverbrauch führten zu Einrichtungen wie jener in Fukushima. Eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung belaste daher jeden einzelnen von ihnen mit einer Teilschuld, die abzutragen unterschiedliche Ansätze verfolgt werden. Welchen Anteil trägt jedes Mitglied der Gesellschaft an der Gesamtheit ihrer Werte, an der Entwicklung, die sie einschlägt? Die Fragen, die in dem Buch aufgeworfen werden, betreffen nicht nur Japan, sondern regen auch in unseren Breiten zum Nachdenken an.

Vielfach finden sich Aufenthalte zum Studium oder aus beruflichen Gründen in den Biographien der Menschen. Dadurch scheinen sie sich einen schärferen Blick auf die Einflüsse der Situation in Japan, eine differenziertere Einschätzung erworben zu haben. Ambivalent scheint es auch, wenn diese Weltoffenheit gepaart mit einer starken Verbundenheit zur Heimat auftritt. Erinnerungen werden an Orten festgemacht und scheinen mit der Verseuchung des Bodens für immer verloren. Zum weiten Horizont gesellt sich also ein tiefer Schmerz über die erzwungene Entwurzelung.

Gegenüber der Regierung und den Behörden herrscht Resignation vor. Die Bürger Japans fühlen sich von den offiziellen Stellen im Stich gelassen. Meßergebnisse der Strahlenbelastung würden nach unten auf ein zulässiges Maß korrigiert, die Anliegen der Industrie werden als schwerer wiegend empfunden als jene der einfachen Bevölkerung. Manche reagieren auf diese Situation mit Rückzug, manche von ihnen engagieren sich in privaten Organisationen.

Fazit:
Judith Brandner bietet in nüchterner Sprache und in bekanntem Ö1-Reportagenstil Momentaufnahmen der Bewohner der Region Fukushima und hinterläßt dabei beim Leser Ernüchterung bis hin zu ohnmächtigem Entsetzen: Bereits wenige Jahre nach einer der größten Katastrophen des Landes wird nämlich deren Ausmaß heruntergespielt, kleingeredet, danach getrachtet, die Auswirkungen dem Vergessen zu überantworten.