Rezension

Wenn die Seele Hunger hat ...

Das Mädchen aus der 1. Reihe - Jana Crämer

Das Mädchen aus der 1. Reihe
von Jana Crämer

Lea steht kurz vor dem Abitur, aber das ist längst nicht ihre größte Sorge. Denn ihre Gedanken drehen sich hauptsächlich um zwei Dinge: Essen und die Coverband „Joyning“, deren größter Fan sie ist. Obwohl Lea bedingt durch ihre Essstörung unter hohem Übergewicht leidet und sie sich eigentlich am liebsten im Schutz der eigenen vier Wände verkrümeln würde, gelingt es ihr nur bei den Konzerten ihrer Lieblingsband, all die Demütigungen und Ängste, die sie begleiten, zu vergessen. Besonders nah fühlt sie sich Ben, dem gut aussehenden und heftig umschwärmten Sänger von „Joyning“. Auch ihm liegt eine ganze Menge an Lea. Wird sich durch ihn für sie alles zum Guten wenden? Das erfährt man erst nach der Lektüre des 280-seitigen Taschenbuchs, das als unzensierte und überarbeitete Neuausgabe am 11. März 2019 bei hockebooks erschienen ist. Natürlich werde ich hier kein Fitzelchen vom Ende der Geschichte verraten!

Wenn ich „Das Mädchen aus der 1. Reihe“ mit nur einem Wort beschreiben sollte, dann würde „unrealistisch“ meine Meinung wohl am besten widerspiegeln. Auf der einen Seite haben wir Ben, den Sänger der Band. Er ist Anfang 30 und hat laut Lea, aus deren Sicht diese Geschichte erzählt wird, ein absolut makelloses Aussehen. Zahllose weibliche Fans in Minirock und High Heels warten nach den Konzerten am Bühnenrand auf ihn. Andererseits ist da Lea, die sich wegen ihres massiven Übergewichts kaum unter die Leute traut und nur wenig Selbstwertgefühl hat, dafür aber durch ihre Essstörung, die Alkoholsucht ihres Vaters und die Trennung ihrer Eltern ein ganzes Bündel voller Probleme mit sich herumschleppt.

Ja, das klingt ein wenig nach Aschenputtel – und ähnlich märchenhaft geht es tatsächlich zu, wenn Ben sämtliche weiblichen Fans beim Gig links liegen lässt und nur Augen für Lea hat. Vor versammeltem Publikum macht er an Lea gerichtete, überschwängliche Ansagen, die ihr die Schamesröte ins Gesicht treiben. Mir ist bewusst, dass es sich um einen Roman und nicht um einen Tatsachenbericht handelt, aber das ist selbst für belletristische Verhältnisse unglaubwürdig. Ich nehme es der Autorin einfach nicht ab, dass sich ein angehender Rockstar ausgerechnet brennend für eine Person interessiert, die als graue Maus im Grunde unsichtbar ist. Und natürlich ist er auch als rettender Engel zur Stelle, wenn es eng für Lea wird. Deshalb halte ich den Plot, der die Beziehung von Lea und Ben betrifft, für unglaubwürdig.

Jana Crämer stellt ihre Protagonistin dafür mit sehr viel Einfühlungsvermögen -wenngleich auch mit ungeschönten Worten - dar. Leas Selbsthass transportiert sie sehr deutlich, ebenso wie die psychologischen Hintergründe der Binge Eating-Störung eingehend beleuchtet werden. Das hat mich sehr berührt.

Sicherlich kann Jana Crämer dahingehend auf eigene schmerzvolle Erfahrungen zurückgreifen, denn die im Ruhrgebiet lebende Autorin wog selbst einmal 180 Kilo, hat ihr Gewicht aber inzwischen erfolgreich halbiert. Darüber berichtet sie auf ihrem Blog www.endlich-ich.com. Wenn man dort stöbert, erkennt man, dass „Das Mädchen aus der 1. Reihe“ einige biografische Bezüge zum Leben der Autorin herstellt - nicht nur, was die Essstörung betrifft, sondern auch die Alkoholabhängigkeit ihres eigenen Vaters.

Alles in allem hat mich persönlich dieses Buch nicht vollständig packen können. Den vielen frenetischen Rezensionen, die es zu "Das Mädchen in der 1. Reihe" gibt, kann ich mich also nicht anschließen. Trotz des flüssigen Schreibstils empfand ich es zum Beispiel als anstrengend, dass sich Lea und ihre beste Freundin ständig mit „Maus“ und „Süße“ ansprechen - von der Songauswahl der Coverband mal ganz zu schweigen. Hören 18-Jährige heutzutage wirklich noch Sting und Billy Idol?

Wichtig und lobenswert ist allerdings die Tatsache, dass Jana Crämer mit ihrem Buch der Binge-Eating-Störung eine Plattform gibt. In vielen Schulen hat sie „Das Mädchen aus der 1. Reihe“ schon vorgestellt und ihre Zuhörerschaft für diese Thematik sensibilisiert. Mein Fazit deshalb: Ein Buch zu einem bedeutsamen Thema, das leider nur mäßig umgesetzt wurde.