Rezension

Wenn die Trauer bleibt ...

Nachruf auf den Mond - Nathan Filer

Nachruf auf den Mond
von Nathan Filer

Bewertet mit 5 Sternen

~~Klappentext
Matthew Homes ist ein begnadeter Erzähler und Patient der Psychiatrie in Bristol. Um dem trostlosen Klinikalltag zu entfliehen, schreibt er seine Geschichte auf – und die seines älteren Bruders Simon, der im Alter von elf Jahren während des Campingurlaubs in Cornwall starb. Selbst nach zehn Jahren gibt sich Matthew immer noch die Schuld am Tod seines Bruders.
Doch eigentlich ist Simon für ihn gar nicht tot. Zumindest wenn Matthew seine Medikamente absetzt. Dann sieht er Simons wunderschönes Lachgesicht im Mond und kann seine Stimme hören. Abgeschottet von der Außenwelt und in Gesellschaft seines imaginären Weggefährten beginnt er, an seinem „Spezialprojekt“ zu basteln. Der geliebte Bruder soll endlich die Ameisenfarm erhalten, die er sich immer wünschte. Verliert Matthew am Ende völlig den Blick für die Wirklichkeit?

 

Das ist mein Leben. Ich bin neunzehn Jahre alt, und das Einzige, worüber ich in meinem Leben frei bestimmen kann, ist diese Geschichte und wie ich sie erzähle. Allein schon deswegen will ich es nicht vermasseln. Es wäre nett von Ihnen, wenigstens zu versuchen, mir zu trauen.“ (Seite 95)

Der neunzehnjähre Matthew Holmes lebt in einer psychiatrischen Klinik. Abends darf er diese verlassen. Seine Zeit verbringt er mit Schreiben und dem Bau einer Ameisenfarm für seinen toten Bruder Simon. Mit Simon fängt alles an. Der Tod des damals elfjährigen an Down Syndrom erkrankten Simon hat Matthew aus der Bahn geworfen. Er selbst war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Seine Mutter wird mit dem Tod des Sohns nicht fertig und verkriecht sich immer mehr. Sie hat letztendlich schwerste Depressionen und der Vater verschließt vor allem die Augen.

Simon sammelte jeden Tag seines Lebens“ (Seite 52)

Allein gelassen in seiner Trauer gibt sich Matthew die Schuld an Simons Tod. Fortan hat er keine ruhige Nacht mehr. Seine Schuldgefühle, aber auch die Trauer um den Bruder zeigen Auswirkungen. Mit siebzehn zeigt er erste Anzeichen einer schweren psychischen Störung. Sein toter Bruder Simon spricht zu ihm und verfolgt ihn in seinen Träumen. Tags wie Nachts. Letztendlich wird bei Matthew eine Schizophrenie diagnostiziert.

Wir sind egoistisch, meine Krankheit und ich. Wir denken nur an uns. Wir biegen uns die Wirklichkeit zurecht, um Botschaften zu empfangen, geflüsterte Geheimnisse, die nur für uns bestimmt sind.“ (Seite 146)

Nathan Filer hat jahrelang als Krankenpfleger in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet.  Er beschreibt die ersten Vorboten der Krankheit bis hin zu den schlimmen und wahnhaften Phasen … authentisch und ungeschönt.

Aber welche Worte wir auch wechselten, sie sind aus meiner Erinnerung verschwunden wie Ameisen in einem Loch.“ (Seite 22)

Was mir besonders gut gefallen hat, ist der Spannungsaufbau, den Nathan Filer hier betrieben hat. Von der ersten Seite an, wird nur angedeutet, wie Simon ums Leben kam. Doch ich erfahre immer nur Bruchstücke, die ich mir nach und nach zusammen setzte. Erst fast am Ende erfahre ich die ganze Wahrheit.

Das hat den Effekt, dass ich immer zu lesen wollte, weil ich endlich wissen wollte was passiert ist. Warum Matthew so in seinem Leben abgestürzt ist.

Des Weiteren haben mich die vielen unterschiedlichen Schriftarten, Skizzen und Satzgestaltungen fasziniert. Nathan Filer hat damit gespielt und sie für Matthews unterschiedlichen Stimmungen entstehen lassen. Am Anfang verwirrt es ein wenig, aber nach ein paar Seiten hat man sich damit arrangiert.

Tag und Nacht zucken wie Stroboskoplicht. Jahreszeiten verschwimmen ineinander, und Wolken explodieren, Kerzenwachs tropft auf Zuckerguss, und Blumenkränze verwelken.“ (Seite 72)

Dieses Buch ist mir echt unter die Haut gegangen. Auf der einen Seite bin ich unendlich traurig über diese ganze Tragödie, auf der anderen Seite muss ich über Matthew und seinen Sinn für Humor und Selbstreflektion lachen.

Das Thema Trauer und Trauerbewältigung nimmt einen großen Teil in diesem Buch ein. Es zeigt, welche Auswirklungen es haben kann, wenn man als Familie nicht gemeinsam trauert, wenn man gerade ein kleines Kind sich und seiner Trauer alleine überlässt. Matthews Selbstvorwürfe, Schuld am Tod des Bruders zu haben lassen ihn nicht mehr in Ruhe und er steigert sich immer mehr in etwas hinein, was nicht der Wahrheit entspricht.

Die Eltern sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar nicht realisieren, was mit Matthew geschieht. Ich finde das ganz schlimm und es macht mich traurig und wütend. Denn so haben sie nicht ein Kind verloren, sondern zwei.

HALLO, mein Name ist dein Potenzial. Du kannst mich auch unmöglich nennen. Ich bestehe aus verpassten Gelegenheiten. Aus den Erwartungen, die du niemals erfüllen wirst. Ich quäle dich immerzu, wie sehr du dich auch bemühst, wie sehr du auch hoffst.“ (Seite 120)

Verwirrend und verstörend, doch zugleich auch berührend und verzaubernd ... ein einzigartiges wundervolles Buch ... unbedingt lesen!!!