Rezension

WENN ICH KAFKA WILL, LESE ICH DAS ORIGINAL

Das flüssige Land
von Raphaela Edelbauer

Bewertet mit 3 Sternen

Dass die Longlist des Deutschen Buchpreises auch einmal andere als immer dieselben Namen aufweist, tut dem Preis gut. Es macht ihn frisch. Klar, dass die Jury auch mal einen experimentellen Roman auf seiner Speisekarte hat. Die neuen, modernen Autoren schreiben tatsächlich anders. Sie verändern die Sprache. Ob ein neuer Sprachgebrauch den Romanen letztlich indes wirklich dienen wird, wird sich erst weisen müssen. Denn man könnte auch von Sprachvergewaltigung sprechen ... Diese Einschätzung liegt im Auge des Betrachters.

„Das flüssige Land“ ist mein erstes Buch, das ich von der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises (2019) lese. Die Longlist hat uns alle überrascht. Sieben Debütromane! Da ist man gespannt. Bei der Besprechung dieses Buches werde ich nachhaltig auf seinen Inhalt eingehen. Es wäre ansonsten kaum möglich, es adäquat zu hinterfragen.

IM EINZELNEN:
Ruth, eine angehende Professorin für Physiktheorie, die gerade exzessiv an ihrer Habilitationsschrift über „Eternalismus“ schreibt, erhält die Nachricht, dass ihre Eltern beide bei einem Autounfall ums Leben kamen. Durch diese Nachricht erleidet sie einen Zusammenbruch. Alles Nachfolgende kann man sich als Delirium im Medikamentenrausch vorstellen. Das wäre noch die annehmbarste und gefälligste Interpretation.

Als Ruth sich vergegenwärtigt, welche Momente sie mit ihren Eltern, denen sie durch Gewohnheit und Erwachsenwerden entfremdet war, gelebt hat, erinnert sie sich an den Kindheitsort, von dem sie manchmal erzählt haben, Groß-Einland, den Ruth aber nicht persönlich kennt. Dort wollten sie begraben werden. So hat sie es in Erinnerung.

Gleich am nächsten Tag fährt Ruth los, versehen mit dem Allernotwendigsten, um die Beerdigung in Groß-Einland vorzubereiten. Sie hat zwar keine Ahnung, wo dieser Ort sich befindet, man kann ihn nicht im Internet aufspüren und auch ihr Navi kennt ihn nicht, aber irgendwie wird sie ihn schon finden.

So ist es auch, sie fährt über die Berge des sogenannten Wechsellandes, das ist ein Gebirge in Österreich, durch eigentlich unbefahrbare Waldwege, muss ihr Auto schieben, weiß nicht mehr, wo sie ist und irgendwie, es muss magisch oder gelenkt sein, ist sie plötzlich mittendrin. Groß-Einland. Ihr Auto ist Schrott, deshalb muss sie bleiben.

An was erinnert uns der Beginn einer solchen Geschichte? An Magie? Nein. An Franz Kafka. Die Überwindung von eigentlich Unüberwindlichem, an dem man verzweifelt. Und wenn die Verzweiflung am Tiefsten ist, hat man gefunden. Bleiben müssen durch seltsame, undurchschaubare Umstände – das Auto von Ruth, soll in 14 Tagen repariert sein, aber als sie nach zwei JAHREN nachschauen kommt, hat kein Mechaniker es angerührt – das ist Kafka pur. Wieso hat sie es zwei Jahre lang „vergessen?“

Auch im weiteren Verlauf des Romans verlässt uns der Vergleich zu dem geheimnisvollsten Schriftsteller des ausgehenden 19. und des angehenden 20. Jahrhunderts nicht. Das Kafkaeske an diesem Roman ist nicht das Loch, der Hohlraum, der sich unter Groß-Einland auftut und das immer größer wird, es sind die Anläufe des Romans gegen das widrige Schicksal, dem man mit Vernunft nicht beikommen kann.

Die normalen Gesetze des Umgangs und der Ökonomie sind verzerrt oder aufgehoben, so wie auch Raum und Zeit anders erlebt werden.

• Zeit und Raum verlaufen unnormal. Nach sechs Jahren Aufenthalt in Groß-Einland hat Ruth eine andere Zeitrechnung, sie ist nur drei Jahre dort gewesen, meint sie. Überhaupt verläuft die Zeit in Groß-Einland in Sprüngen oder (Fieber-)Schüben.
• Nach einem Jahr, bemerkt Ruth „zufällig“ das Altersheim, in dem ihre Großmutter wohnt, obwohl es jeden Tag direkt vor ihrer Nase stand.
• Die Autobahn liegt ringförmig um den Ort, die Ausfahrt ist auch die Einfahrt, d.h. die Straße führt nirgendwohin. Alle Menschen träumen vom Reisen. Aber niemand ist je weg gewesen oder macht sich je auf, um irgendwo hin zu gehen.
• Man verirrt sich plötzlich auf gut bekannten Wegen.
• Normale Zahlungsmittel gibt es nicht, jeder schuldet jedem, jeder aber ist bei der Gräfin verschuldet, die im Schloss wohnt und alle irgendwie beherrscht. Die Gräfin, das ist eine kaum fassbare Oberinstanz, vor der alle Angst haben. Dass sie im Schloss wohnt, kommt nicht von ungefähr.
• Es gibt keine Gütereinfuhr von außen, was aber verschleiert wird, alle Marken werden heimlich nachgemacht und mit falschen Etiketten versehen. Kleiner Gag: den Geschmack von Cola kriegen sie nicht hin.
• Die Heimlichkeiten der Instanzen, die aber vordergründig alles offenlegen, sind ganz typisch für Kafka.

Internet gibt es auch nicht. Von Zeitungen, die Nachrichten von außen nach Groß-Einland transportierten, habe ich nichts gelesen.

Mit der Zeit entdeckt Ruth, die inzwischen für die Gräfin arbeitet und einen Füllstoff für die Stabilisierung des gefährlichen Lochs erfinden soll, Unstimmigkeiten in den erhobenen Daten. Sie trägt alle Fakten zusammen. In der NS-Zeit müssen in diesem Loch Menschen verschwunden sein. Es wird aktenkundig zugegeben, dass es Gräueltaten gab. Doch Ruth vermutet, dass die Bewohner des Ortes beteiligt gewesen sind und dass die Ausmaße größer sind als vermutet. Wer war überhaupt unschuldig? Keiner?

Die Fragen, die im Laufe des Romans bei dem Leser auftauchen könnten, sind solche wie: Kennt man seine Eltern je wirklich? Gibt es ein gemeinschaftliches Vergessen? Und hat dieses Vergessen dieses Loch geschaffen, das alles Leben zu verschlingen droht.

"Das flüssige Land" ist unbedingt symbolhaft zu verstehen. Man kann viel hineininterpretieren in die Erzählung. Oder man kann es lassen. An seinem Ende wird nichts aufgeklärt. Ruth verlässt den Ort wie sie gekommen ist. Fast magisch.

DIE KRITIK:
Positiv zu vermerken ist die Detailfülle der Erzählung und ihre Komplexität. Es entsteht trotz der Surrealität des Stoffes ein Lesesog. Man möchte wissen, wie es weitergeht. Doch jeder Erzählstrang, jede neue Autorenerfindung führt nur wieder zu derselben Ergebnislosigkeit wie am Anfang und die Verzweiflung des Lesers mag die Verzweiflung der Protagonistin spiegeln.

Die Sprache ist selbstverständlich phrasenlos, aber oft künstlich intellektualisiert. Natürlich streift der Roman manche österreichische Eigentümlichkeit und macht sich ein wenig darüber lustig, eine 400köpfige Blaskappelle lässt den Leser auch einmal schmunzeln.

Die aufgeworfenen Fragen nach dem Vergessen der Geschichte des Nationalsozialismus, die dem Roman „seine Tiefe“, also eigentlich seine Berechtigung geben müssten, sind zu kurz und zu flüchtig eingewoben. Sie reichen aus, um den Leser bis zum letzten Blatt bei der Stange zu halten, bewirken aber letztlich nichts. Wie mit dem Vergessen und Vertuschen des einzelnen umzugehen ist und wie mit dem einer Gesellschaft, davon erfahren wir leider eben doch nichts.

Das Vergessen macht mir auch eher bei der jungen Generation Sorgen, nicht bei der Älteren, und seien sie noch so sehr um Vertuschung und Verharmlosung bemüht. Es ist die Urenkelgeneration, die sich nicht mehr identifizieren will mit der Geschichte ihrer Nation. Davon aber ist in diesem Roman nichts zu finden.

Fazit: Emotionsloser Kafkaverschnitt, der mir nichts gegeben hat, dessen Komplexität man aber anzuerkennen hat.

Kategorie: Anspruchsvoller Roman.
Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019
Verlag: Klett Cotta, 2019

Kommentare

Marshall Trueblood kommentierte am 29. August 2019 um 19:17

...wieder was, was ich mir merken muss... Sprachvergewaltigung...;-))

Ich glaube, ich hatte den richtigen Riecher und habe das Buch nicht in die Liste "unbedingt zu lesen"  hinzugefügt...

wandagreen kommentierte am 30. August 2019 um 01:15

So was hast du? Eine Liste "Unbedingt zu lesen?" *Neugier*.

sphere kommentierte am 30. August 2019 um 08:54

Eine sehr aussagekräftige Rezension, danke!

Es war das einzige Buch, was mich von den Leseproben interessiert hat...

Gittenen Bücherfresserchen kommentierte am 01. September 2019 um 10:27

ich habe deine Rezi zwar nur quergelesen ( um nicht ausversehen gespoilert zu werden), aber ich aber ich bin immer noch neugierig , das Wort Surrealissmus hat bei mir eine große Anziehungskraft

wandagreen kommentierte am 02. September 2019 um 12:20

Von den drei Romanen, die ich bisher gelesen habe, ist es bis jetzt das aussichtsreichste auf den ersten Platz.