Rezension

Wenn ich könnte, würde ich 10 Sterne vergeben

Der Märchenerzähler - Antonia Michaelis

Der Märchenerzähler
von Antonia Michaelis

Zum Inhalt:

In der Schule ist der 17jährige Abel Tannatek besser bekannt als “polnischer Kurzwarenhändler”. Mit anderen Worten: er verkauft Drogen. Zudem schwänzt er auch noch öfters die Schule und gilt als Außenseiter. Doch die ebenfalls 17 Jahre alte Anna lernt schon bald eine andere Seite von Abel kennen und verliebt sich rettungslos in ihn. Er kümmert sich liebevoll um seine kleine Schwester Micha und wirkt bei ihr alles andere als bedrohlich. Vor allem dann, wenn er ihr Märchen erzählt. Und dieses Märchen zieht auch Anna immer mehr in seinen Bann. Doch inwieweit vermischen sich darin die Grenzen zwischen Realität und Fantasie?

Meine Meinung:

Normalerweise tippe ich nach dem Ende eines Buches recht zeitnah zumindest schon mal die ersten Eindrücke ab, damit ich nichts vergesse, was mir wichtig erscheint. Doch dieses Mal, nach “Der Märchenerzähler”, war das einfach nicht möglich. Dafür hatte mich das Buch kopf- und herztechnisch einfach zu sehr beansprucht. Und auch jetzt, wo bereits einige Stunden und sogar eine ganze Nacht vergangen sind, kann ich meine Gedanken noch immer nicht wirklich ordnen bzw. die richtigen Worte finden. Und ich merke, dass mein Herz schon wieder zu rasen anfängt, meine Augen feucht werden und sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildet…

“Tannatek nickte. Doch Anna ging nicht. Sie stand mitten im Raum, als hielte etwas sie dort fest, und dieser Moment gehörte zu denen, die sie später nicht erklären konnte, sich selbst nicht und auch niemand anderem. Was geschah, geschah einfach.” (Seite 22)

Schon der Anfang hat mich, durch die tolle Schreibweise von Antonia Michaelis und ihre wunderbare Wortwahl, gefesselt. Als es dann jedoch zur ersten Märchenstunde kam, tauchte ich komplett ab. Ich war mit der kleinen Klippenkönigin, die ein diamantenes Herz hat, dem Seelöwen, der auch noch andere Gestalten annehmen kann, und all den anderen, die im Laufe von Abels Märchen noch dazukamen, an Bord des grünen Schiffes mit dem gelben Steuerrad und suchte mit ihnen das Festland… Wer sich jetzt fragt, was ich da für einen Schwachsinn geschrieben habe, sollte möglichst schnell das Buch lesen. :)

Die Autorin hat in diesem Buch eine perfekte Symbiose aus Fiktion und Realität geschaffen, in der die Grenzen so manches mal nicht klar auszumachen sind, und dafür gesorgt, dass erst ein und dann, mit dem weiteren Verlauf, zwei und schließlich immer mehr Fragezeichen auf den Seiten und vor meinem geistigen Augen auftauchten. Und das ist, neben der Geschichte an sich, das besondere an diesem Buch. Als Leser merkt man schnell, wenn man denn aufmerksam liest und seinen Gedanken Freiraum zum Entfalten lässt, dass nicht alles bloß erfunden ist. Warum das aber so ist, warum Abel das Tatsächliche mit dem Ausgedachten kombiniert, bleibt lange Zeit offen. Ebenso wie die Frage, was es mit dem Prolog auf sich hat. Als ich diesen nach der letzten Seite des Buches noch einmal gelesen hatte, schloss sich der Kreis endgültig und ich blieb zurück mit einem Gefühl von… ich kann es nicht benennen.

»Es gibt etwas, das du wissen musst. Dein Herz, kleine Königin … ist kein gewöhnliches Herz. Es ist ein Diamant. Rein und weiß und groß und wertvoll wie kein zweiter. Könnte man dieses Herz aus deiner Brust lösen, würde es so hell funkeln und glitzern wie die Sonne.«
»Aber man kann es nicht aus meiner Brust lösen, nicht wahr?«, fragte die kleine Königin.
»Nein« , antwortete der Seelöwe ernst. »Nicht, solange du lebst.« (Seite 62)

Ich bin verdammt nah am Wasser gebaut, ich bin eine Heulsuse, dass gebe ich offen zu. Mehrere Bücher haben mich bereits zu Tränen gerührt, aus den unterschiedlichsten Gründen. Bei “Der Märchenerzähler” versammelten sich jedoch die unterschiedlichsten Gründe für Tränensturzbäche. Ich glaube, ich habe so ziemlich jede Gefühlsregung, zu der ich fähig bin, während des Lesens durchlebt. Vielleicht sogar ein paar, von denen ich bis dato gar nichts wusste. Ich schwankte, zusammen mit Anna, Abel und Micha, nicht nur zwischen der realen und der erfundenen Welt, sonder auch zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, zwischen Liebe und Wut, zwischen blauem Licht und weißem Rauschen. (Wer das Buch gelesen hat, wird mich verstehen.)

Wenn ich mich jetzt nicht zusammenreiße, schreibe ich weiter und weiter. Doch wäre das denjenigen gegenüber, die das Buch noch nicht gelesen haben (die Betonung liegt hier auf noch), absolut unfair. Denn ich möchte euch die Chance geben, das Buch völlig unvoreingenommen zu erleben. So wie ich auch. Nehmt euch die Zeit, die dieses Buch braucht und verdient hat, macht es euch auf der Couch gemütlich und taucht in diese Geschichte ab. Ich möchte allerdings anmerken, dass die empfohlene Altersangabe ab 14 Jahren, je nach Gemütsbeschaffenheit des jeweiligen Lesers, vielleicht ein wenig zu niedrig angesetzt ist. Ich mit meinen 31 Jahren konnte zumindest an ein, zwei Stellen nicht weiterlesen. Ich hatte regelrecht Angst vor den Worten, die da auf mich warteten.

“Später dachte sie, wenn sie es getan hätte, wenn sie mit ihm gesprochen hätte, an jenem Sonntag – aber wen interessiert schon später? Später ist immer zu spät.” (Seite 157)

Antonia Michaelis hat mit “Der Märchenerzähler” ein Buch geschrieben, das mich komplett, mit all seinen Facetten, eingefangen hat. Ich ärgere mich, dass ich damals, als Buch im Februar 2011 erstmals als Hardcover erschienen ist, nicht schon darauf aufmerksam geworden bin. Ich bin mir sicher, dass ich die Geschichte von Anna und Abel, hätte ich sie damals gelesen, bis heute – zweieinhalb Jahre später – nicht vergessen hätte. Nun liegt diese Zeit des Nichtvergessenkönnens noch vor mir…

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