Rezension

Wenn in einem Staat die Rollenverteilung der technischen Entwicklung hinterherhinkt

Kim Jiyoung, geboren 1982 -

Kim Jiyoung, geboren 1982
von Nam-joo Cho

Bewertet mit 4 Sternen

Die Süd-Koreanerin Kim Jiyoung ist mit Mann und Kind bei ihren Schwiegereltern zu Besuch, als sie zum ersten Mal in der Tonlage und aus der Perspektive einer anderen Person spricht. Da sie nach der Entbindung ihrer Tochter bereits an postpartaler Depression erkrankt war, wird sie sich nun einer Psychotherapie unterziehen. Nam-Joo Chos harmlos “Roman” genannter Bericht erzählt aus Jiyoungs  Familiengeschichte, aus Studienzeit und Beruf bis zu ihrer unfreiwilligen Entscheidung, ihre Arbeitsstelle zu kündigen, da sich Beruf und Familie im Süd-Korea der Gegenwart unter keinen Umständen miteinander vereinbaren ließen.

Jiyoung ist mir einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder aufgewachsen.  Der Vater verdiente wenig, die Mutter arbeitete immer - stets nur gering  bezahlt -, versorgte Kinder, Haushalt und Schwiegermutter allein. Das Schicksal der Mutter, die sich bereits opferte, damit ihre Brüder studieren konnten, sollte erwarten lassen, dass sie für ihre Töchter ein anderes Leben plant. Jiyoung ältere Schwester Unyoung trug ebenfalls allein die Verantwortung für ihre Geschwister, damit die Mutter arbeiten konnte. Erst als der jüngere Bruder geboren wird, bemerken die Mädchen, dass Männer und Jungen mehr zu essen bekommen, aufgrund ihres Geschlechts stets vorgezogen werden und nicht im Haushalt helfen müssen. Besonders von der Großmutter geht die Einstellung aus, dass allein Jungen zählen und bei Tisch für Mädchen die Reste gut genug sind. Die Schwestern mussten immer teilen und haben das klaglos getan – ein Bruder jedoch muss mit seinen Schwestern nicht teilen. Erst Jahre später wird Jiyoung die ungleiche Verteilung der Familienarbeit bewusst, als Ihre Mutter dem Vater entgegen schleudert, er bräuchte sich nicht mit dem Erfolg seiner Familie zu brüsten, da er nur 30% dazu beigetragen hätte, den größeren Teil hätte sie geleistet und die Kinder, die sich gegenseitig erzogen hätten.

Erstaunlich fand ich in Jiyoungs Vorgeschichte, dass die Eltern zwar auf Bildung drängten, auf die Töchter jedoch noch keinen Druck zur Heirat ausüben. Jiyoungs Schicksal unterscheidet sich in der Folge in keiner Weise z. B. von dem berufstätiger Japanerinnen. Durch die langen Arbeitszeiten, den gesellschaftlichen Druck, Söhne gebären zu müssen und die schlaffe Haltung ihrer Ehemänner gegenüber einer partnerschaftlichen Verteilung der Hausarbeit geben Frauen in Süd-Korea auch in diesem Jahrtausend zu oft  qualifizierte Jobs auf, nachdem ein Paar ein Kind bekommen hat. Deutlich wird hier, dass die süd-koreanische Gesellschaft überholte Rollenbilder weitergibt, die sich mit den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts und den Wünschen akademisch gebildeter Frauen nicht vereinbaren lassen. Auffallend finde ich, dass in Jiyoungs Lebenswelt Männer überholten Rollenbildern nicht entgegentreten. Für sie ist es bequemer, selbst nicht unter Druck gesetzt zu werden, gefälligst einen Sohn zu zeugen, und den überholten Erwartungen der eigenen Eltern nicht entgegentreten zu müssen.

Die bezwingende Entwicklung, in der Jiyoungs Mutter die Gleichbehandlung ihrer 3 Kinder nicht durchsetzen kann, bis zur Erfahrung der jungen Frau am Arbeitsplatz, dass gleichaltrige männliche Kollegen weniger leisten müssen, weil sie ja noch für ein langes Berufsleben „geschont“ werden sollen, liest sich absolut fesselnd. Die Fußnoten zu Quellen und Fakten geben dem Text stellenweise den Charme eines soziologischen Fachaufsatzes. Leider sind die geschilderten Probleme Frauen in Europa nicht unbekannt. Sensationell daran ist allein, wie wenig sich - nicht nur in Süd-Korea - bis in die unmittelbare Gegenwart geändert hat.