Wenn man dieses Buch liest, sieht man nicht nur die Welt mit anderen Augen, sondern ist auch ein klein wenig ein anderer Mensch

Sommer unter schwarzen Flügeln
von Peer Martin

~~Inhalt
Calvin und Nuri leben in zwei verschiedenen Welten. Er ist in der rechten Szene aktiv, sie Flüchtling aus Syrien. Als Calvin seine Brüder von der Nachhilfestunde abholt, trifft er auf Nuri, die ihn in ihre Welt eintauchen lässt. Es ist eine Reise zurück nach Syrien, in dem Krieg, brutale Foltermethoden und der Wahnsinn des Assad-Regimes zum Alltag gehören. Nuris Erzählungen bewirken, dass Calvin seine rechtsextreme Einstellung überdenkt und sich bewusst wird, dass er nicht länger zu denen dazugehört, die für ein Deutschland ohne Ausländer kämpfen. Er verliebt sich in Nuri und muss schnell erkennen, dass diese Liebe an ihre Grenzen stößt.

Meine Meinung
Was ist ein Menschenleben wert? Diese neben vielen anderen Fragen, steht für mich im Fokus von "Sommer unter schwarzen Flügeln". Denn nicht nur Nuri, die aus dem kriegerischen Syrien nach Deutschland geflohen ist und hier mit ihrer Familie Asyl sucht, wird immer wieder damit konfrontiert, dass ein Menschenleben nicht viel wert ist. In Syrien hat sie schlimmes erlebt, aber auch in Deutschland, dem Land, welches sie in ihren Erzählungen als Märchenland betitelt, stößt sie auf Ablehnung. Ihr wird schnell verdeutlicht, dass sie unerwünscht ist und nach Hause gehen soll. Egal, wie dieses zu Hause auch aussehen mag.

Doch auch für Calvin stellt sich die Frage, was ein Menschenleben wert ist. Er gehört zu einer rechten Jugendgang, lebt im sozialen Brennpunkt mit seiner Mutter, ihrem neuen Lebensgefährten und den zwei Brüdern. In seiner Clique findet er das, was ihm zu Hause fehlt – Anerkennung und ein Ventil, um seine Aggressionen heraus zu lassen.

Als Calvin auf Nuri trifft, ahnt er nicht, dass dieses Treffen seine Zukunft verändern wird. Er möchte sie noch nicht einmal mögen, weil sie doch all das verkörpert, was er ablehnt. Doch Nuri ist eine großartige Geschichtenerzählerin, die ihr Gegenüber sofort mit nach Syrien nimmt.

Er sah, obwohl er es nicht wollte. Er stand da auf dem Sprung, die Fäuste geballt. Aber die Stimme und die Bilder hielten ihn fest. Warum? Wie machte sie das? (Seite 17)

Dieses, wie macht sie das, habe ich mich auch gefragt. Allerdings beziehe ich meine Frage auf den Autor Peer Martin, der eine Gabe hat, den Leser in die Geschichte eintauchen zu lassen, die ich als einzigartig bezeichnen möchte. Er zeichnet Figuren, Situationen und Erlebnisse in einer so bildhaften und sprachgewaltigen Art und Weise, dass man das Grauen in Syrien sofort vor Augen hat, wenn Nuri anfängt zu erzählen. Vor allem bei den Passagen, bei denen Nuri Vorahnungen hat, die ihr in Form von schwarzen Flügeln erscheinen, bekommt man schon fast ein wenig Gänsehaut.

Als ich den Kopf hob, sah ich auf der Erde die Schatten der Trauben. Und dann andere, dunklere Schatten. Und ich hörte ein Rauschen. Etwas flog über mich hinweg. Die Schatten vor mir waren die Schatten von großen, schwarzen Flügeln (Seite 21)

Doch auch die rechtsradikale Szene um Calvin wird hier sehr authentisch dargestellt. Der innere Konflikt von Calvin, den er mit sich austrägt, nachdem er Nuri besser kennen und lieben lernt, ist nachvollziehbar und logisch erzählt.

Nuri und Calvin lernen einander durch Frau Silbermann kennen. Eine ältere Dame, die sowohl seinen Brüdern als auch Nuri Nachhilfe gibt. Sie beobachtet die Liebe des ungleichen Paars zunächst kritisch, hilft den beiden jedoch auch, als sie das starke Band zwischen ihnen spürt.

Besonders schön finde ich, das Aufeinandertreffen außerhalb von Frau Silbermann, bei dem Nuri und Calvin sich das erste Mal begegnen und die ganze besondere Magie zwischen den beiden deutlich wird.

Der Regen, der auf seine Finger fiel, hatte jetzt einen arabischen Namen, es war vielleicht gar kein deutscher Regen mehr. Und das Haltestellenhäuschen war ein Glaspalast aus einem Märchen zwischen Staub und Steinen (Seite 47)

Sommer unter schwarzen Flügeln ist ein Buch, welches den Leser an seine Grenzen und weit darüber hinaus führt. Es hat mir stellenweise beim Lesen weh getan, mich erschüttert und so sehr bewegt, dass ich ab und zu pausieren musste, um das Grauen verarbeiten zu können. Deshalb konnte ich die Gedanken von Calvin auf Seite 259 auch so gut verstehen.

Gibt es denn gar nichts Schönes zu erzählen, fragte er leise. Wird alles nur immer schlimmer? Wenn das ein Film wäre, würde ich den Fernseher ausmachen.

Auch aus diesem Grund habe ich überlegt, ob es passend ist, das Buch in dem Genre "Jugendbuch" zu verlegen. Nachdem ich jedoch das Gelesene ein paar Tage verdauen konnte, finde ich es sogar mehr als sinnvoll und Jugendliche die absolut richtige Zielgruppe. Denn, wenn wir nicht schon in den jungen Köpfen dafür sorgen, dass Naziparolen und rechtsradikale Gruppierungen keine Chance haben, dann ist es irgendwann zu spät. 

Ein großes Lob möchte ich auch für die Aufmachung des Romans aussprechen. Er ist perfekt recherchiert, bietet sehr viel Hintergrundwissen über Syrien und die rechtsradikale Szene, beendet jedes Kapitels jedoch auch noch mit je zwei Begriffen, die mit "Internetsuche" betitelt sind und dem Leser noch mehr Informationen anbieten, die ihn weiter in die Geschehnisse eintauchen lassen. Zum einen wird ein Begriff, der sich mit Syrien und zum anderen ein Begriff, der sich mit der rechtsradikalen Szene beschäftigt, in den Fokus gerückt und dem Leser die Möglichkeit zur Internetrecherche geboten, die ich sehr gerne genutzt habe. Ich glaube nicht, dass ich mich zuvor schon mal auf ähnliche Weise mit einem Buch auseinander gesetzt habe und finde großartig, dass der Autor oder auch Verlag sich dies überlegt haben.

Fazit
Auf dem Klappentext steht der Satz " Wer dieses Buch liest, wird die Welt mit neuen Augen sehen!" Dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. Es ist eine Geschichte, die nachdenklich macht, berührt, authentisch und schonungslos erzählt wird. Ein großartiges Debüt von einem Autor, von dem ich noch sehr viel mehr lesen möchte. Absolute Lese- und Kaufempfehlung!