Rezension

Wenn Täter zu Opfer und Opfer zu Tätern werden

Löwen wecken - Ayelet Gundar-Goshen

Löwen wecken
von Ayelet Gundar-Goshen

Bewertet mit 4 Sternen

~~Klappentext
„Und er dachte sich gerade, dies ist der schönste Mond, den er gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr.“
Es ist ein einziger Moment, der das Leben des Neurochirurgen Etan Grien von Grund auf verändert: der Moment, in dem er nachts auf einer einsamen Straße einen illegalen Einwanderer überfährt. Um Karriere und Familie zu schützen, entscheidet sich Etan, den Mann nach dem tödlichen Aufprall liegen zu lassen und den Unfall nicht zu melden. Doch dann kontaktiert ihn plötzlich die Ehefrau des Opfers: Sie habe den Unfall beobachtet, und für ihr Schweigen soll er ab sofort Nacht für Nacht den übrigen Einwanderern medizinische Hilfe leisten. Etan geht darauf ein, doch der gravierenden Auswirkungen dieses Paktes auf sein Leben wird er sich erst bewusst, als er wirklich alles zu verlieren droht.

 

„Ihre Füße graben im Sand, und der Sand ist warm und glatt. Der Wind hat ihn angeweht, und der Wind wird ihn auch wieder wegwehen, und das ist völlig in Ordnung, denn der Sand erinnert sich nicht. Der Sand weiß nicht, wo er gestern war und wo er morgen sein wird. Wenn es anders wäre, wenn der Sand alle Orte behalten würde, an denen er mal war, würde ihn das so schwer machen, dass kein Wind ihn irgendwohin tragen könnte.“ (Seite 135)

Etan Grien, ein renommierter aber gelangweilter Arzt überfährt einen Eritreer. Dieser ist sofort tot. Und obwohl Etan eine sehr hohe Moralvorstellung hat, lässt er den Eritreer liegen und macht sich aus dem Staub, weil er Angst vor der Strafe und ihren Folgen hat. Und jetzt beginnt das wirklich große Drama. Sirkit, die Ehefrau des Getöteten hat alles gesehen und erpresst Etan. Er soll fortan alle kranken illegalen Einwanderer ärztlich versorgen. Etan lässt sich darauf ein, doch schon schnell verstrickt er sich in seinem Lügengeflecht und alles droht aufzufliegen.

„Für ein solches Geheimnis braucht es zwei. Einen, der nicht erzählen, und einen der nicht wirklich hören möchte.“ (Seite 355)

Ehrlich gesagt spaltet mich dieser Roman. „Löwen wecken“ ist ein komplexer Roman, der sehr spannend ist, aber an manchen Stellen etwas langatmig. Wenn ich den Roman unter dem Aspekt betrachte, dass die Autorin Ayelet Gundar-Goshen  unter anderem Psychologie in Tel Aviv studiert hat, verstehe ich, was sie mit dem Roman bewirken möchte.

Sie skizziert hier zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Etan, der reiche Weiße, der einen Job und Familie hat und Sirkit, die illegale Einwanderin, immer auf der Flucht. Zwei Charaktere, die kurzfristig ihre Rollen tauschen. Denn durch ihre Erpressung Etan gegenüber merkt Sirkit wie es ist Macht zu haben. Die Menschen in ihrer Umgebung behandelt sie mit Respekt. Und Etan … und wird zu einem duckmäuserischen Mann, der alles macht was Sirkit ihm sagt, nur damit sie ihn nicht verrät. Beide fühlen sich in dieser Zeit auch voneinander angezogen und als Leser denke ich dabei sofort an das „Stockholm Syndrom“.

„In den nächsten Tagen sahen ihre Mitmenschen sie anders an. Und als sie sie anders ansahen, wurde sie auch anders. Im Gehen. Im Stehen. Sogar ihr Körpergeruch änderte sich. Das Geh und Stehen konnte man sehen. Aber seit der Arzt Assum überfahren hatte, kam ihr niemand mehr nahe genug, um ihren veränderten Geruch wahrzunehmen. Und überhaupt, seit der Arzt Assum überfahren hatte, kam ihr niemand zu nahe. Sie beobachteten sie von fern. Sprachen über sie von fern. Dieser Abstand hatte einen Namen – Respekt.“ (Seite 378)

Menschen können unter bestimmten Umständen zu etwas werden/ machen, was sie im "normalen" Situationen nicht machen würden. Etan wird durch seien Tat zu einen "schwächlichen Menschen, weil er sich schuldig fühlt. ist aber nicht im Stande sich seiner Schuld zu stellen. Sirkit wird durch ihrem Auftreten gegenüber Etan selbstbewusster und spürt fort an, welche "Macht" sie ausüben kann. Beide sind also in Situationen, die sie eigentlich nicht kennen, können sich aber zum einen nicht daraus befreien bzw. genießen es. Das macht beide immer unberechenbarerer. Erst durch ein Eingreifen von außen bekommen beide mehr oder weniger ihr Leben zurück.

„Wie bei dem Spiel, wenn man immer wieder dasselbe Wort sagt, bis es auf der Zunge zerfließt. Ende an Anfang an Ende schließt. Zum Beispiel: Eiweißeiweißeiweißeiweißeiweiß, bis man nicht mehr weiß, wo hinten und vorne ist, das Weiße mit dem Dotter verfließt und sogar der vertraute Klang des Wortes plötzlich seltsam, außerirdisch klingt. Die Wörter zerfließen in Silben und die Silben in Töne, und wo Töne zerfließen, gibt es nur tiefes Wasser, tausend blaue Strömungen, in die kein Licht eindringt. Wenn man lange genug irgendwohin starrt, wird alles seltsam. Deine Worte. Deine Gesichtszüge. Dein Mann.“ (Seite 157)

Sprache und Stil sind etwas eigenwillig. Die poetische Sprache wird ab und an durch eine vulgäre Sprache sowie philosophischen Einschüben unterbrochen. Alles in allem ist dieses Buch für all die etwas, die nicht davor zurückschrecken Gelesenes zu hinterfragen und zu reflektieren. Gerade das hat mir an diesem Buch sehr gut gefallen.