Rezension

Wenn Worte fehlen...

Die Sicht der Dinge - Jiro Taniguchi

Die Sicht der Dinge
von Jiro Taniguchi

Bewertet mit 5 Sternen

Als er die Nachricht vom Tode seines Vaters erhält, fährt Yoichi zu dessen Beerdigung in seinen Heimatort Tottori. 15 Jahre hat er seine Familie nicht mehr besucht, bestrebt die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend zu verdrängen. Nun erweist er seinem Vater bei der Totenwache die letzte Ehre ? und verblasste Erinnerungen werden wieder lebendig. Die Gespräche im Kreise der Verwandten revidieren seine festgefahrenen Ansichten, machen Schuldzuweisungen nichtig. Vor Yoichi entfaltet sich ein neues Bild seines Vaters.

Was sind Erinnerungen? Immer etwas Subjektives. Erinnerungen sind Bilder, Gerüche, Eindrücke, die sich zu einer Wahrheit verdichten, die unverrückbar erscheint. Wenn diese Erinnerungen dann noch aus der frühen Kindheit stammen und mit sehr einschneidenden Erlebnissen im Zusammenhang stehen, braucht es schon ein Korrektiv, Worte, Aussprachen, die diese Eindrücke relativieren und Dinge vielleicht auch in einem anderen Licht erscheinen lassen...
Wenn aber Worte fehlen, Gefühle nicht angesprochen werden, das stumme Erleiden und Aushalten zur Familientradition wird - dann lebt letztlich jeder in seiner eigenen Hölle. Doch für Yoichi stellt der Tod seines Vaters unerwartet eine Möglichkeit dar, durch die Erinnerungen von Freunden, Verwandten und Bekannten eine neue Sichtweise auf seinen Vater und seine eigene Vergangenheit zu entwickeln. Er erkennt, wie wichtig es ist, das Innehalten, das Zurückschauen, das Verstehen...

Das erste Mal, das ich ein Graphic Novel in der Hand hielt - einen Roman in Comicform. Meine anfängliche Skepsis wich schnell einem Gefesseltsein: traf ich hier doch auf eine berührende Mischung aus Humanismus, Melancholie, leichter Skepsis, feinem Humor und viel Poesie.
Das richtige Buch zur richtigen Zeit, und so habe ich es in einem Rutsch durchgelesen und vorhin leise den Buchdeckel geschlossen.

Unbedingt empfehlenswert!

© Parden