Rezension

"Wer die Wahrheit sagt, wird früher oder später dabei ertappt"

Empfindliche Wahrheit - John Le Carré

Empfindliche Wahrheit
von John Le Carré

Dieses Motto, den „Weisheiten von Oscar Wilde“ entnommen, hat John le Carré seinem neuen Roman „Empfindliche Wahrheit“ voran gestellt. Was dem Leser zunächst als witziges Bonmot erscheint, entpuppt sich im Verlauf des Romans als desillusionierende Realität.

Doch der Reihe nach:

Alles beginnt in der englischen Kronkolonie Gibraltar, wo ein englischer Diplomat unter dem Decknamen „Paul Anderson“ als Beobachter der „Operation Wildlife“ , bei dem ein internationaler Waffenhändler inhaftiert werden soll, fungiert. Das Unternehmen, hinter dem auch der Außenminister Fergus Quinn steht, misslingt; die beteiligten Akteure müssen sich zurückziehen. In demselben Jahr wird Toby Bell, ein junger, sehr versierter Diplomat, in die Dienste eben dieses Fergus Quinn gestellt, entdeckt Ungereimtheiten und Merkwürdiges und versucht, Details zu erfahren. Da seine Fragen unbeantwort bleiben, entschließt er sich, ein geheimes Gespräch seines korrupten Ministers per Tonbandgerät mitzuschneiden. Einige Jahre später trifft er mit dem inzwischen pensionierten Kit Probyn alias Paul Anderson in Cornwall zusammen. Der Pensionär musste inzwischen erkennen, dass sein Einsatz in Gibraltar wohl doch nicht dem „Wohlergehen der Nation“ diente. Sie beschließen, das Geheimnis „Wildlife“ aufzudecken, wobei jeder auf seine eigene Art vorgeht.

Mit dem Motiv der Spionage im Dienst der nationalen Sicherheit und Antiterrorbekämpfung hat Carré ein top aktuelles, brisantes Thema bearbeitet (wie er es auch in den meisten seiner vorherigen Bücher getan hat). Er führt uns auf das glatte, rutschige Parkett der Diplomaten im Auswärtigen Dienst. Die einzelnen Handlungsstränge sind geschickt miteinander verwoben,

eine sehr komplexe Geschichte. Der Roman ist dennoch gut und flüssig zu lesen, dank Carrés lockerer, ruhiger Schreibweise. Er steckt voller Anspielungen auf  einzelne Episoden in der englischen Politik (New Labour, Tony Blair), enthält Spitzen gegen Staat und Staatsdiener. Carré, dessen bürgerliche Name David John Moore Cornwell lautet, würzt sein Werk mit viel Sarkasmus  - so heißt etwa das Dienstleistungsunternehmen, das neben humanitären Projekten auch Söldner für spezielle militärische Aufgaben zur Verfügung stellt, „Ethical Outcomes“ (übersetzt etwa „Moralische Resultate“), und gleich in den ersten Zeilen des Romans sind „seine sympathisch-rechtschaffenen Züge“  die Erkennungsmerkmale des Engländers im Allgemeinen.

Packend geschrieben, lebendig und aufrüttelnd, legt Carré die Situation eines Whistleblowers dar. Der Autor lässt die unterschiedlichsten Menschen in der ihnen eigenen Sprache zu Wort kommen, beleuchtet die unterschiedlichsten Motive. Mit der Erfahrung des „altgedienten“ Schriftstellers schafft er es, seine Romanfiguren authentisch wirken zu lassen.

Den englischen Originaltitel „Delicate Truth“ könnte man auch mit „Heikle Wahrheit“ übersetzen. Im Deutschen entspräche das Adjektiv „heikel“ meiner Meinung nach dem Inhalt des Romans besser als „empfindlich“.

Es ist ein verstörendes Buch, das ein Bild der permanenten Überwachung der Bürger wiedergibt. Verstörend auch, weil es nicht nur  die Macht des Staates und seiner Organe demonstriert, sondern vor allem die Ohnmacht des Einzelnen. Und so wird das Ende des Romans kommentiert in der bitteren Aussage des ursprünglich vorangestellten Mottos: „Wer die Wahrheit sagt, wird früher oder später dabei ertappt.“