Rezension

Wer nicht fragt bleibt dumm?

Miroloi - Karen Köhler

Miroloi
von Karen Köhler

Bewertet mit 5 Sternen

Es war einmal ein schönes Dorf auf einer schönen Insel. Die Bewohner dieses Dorfes haben nur sich und dieses idyllische Fleckchen Erde. Was wie der Beginn eines Märchens anmutet, ist eigentlich der Beginn eines Totenliedes. Mit diesem Ritual wird das Leben eines verstorbenen Dorfbewohners nacherzählt, Strophe für Strophe. Die namenlose Erzählerin singt es sich selbst, weil für so eine wie sie keiner aus dem Dorf ein „Miroloi“ singen würde. Sie, die einfach ausgesetzt wurde, keine geklärte Herkunft hat und damit auch ein Recht auf einen Namen. Die ausgegrenzt, verspottet und nur widerwillig in der Dorfgemeinschaft geduldet wird, weil der Bethausvater ihr Finder und Beschützer ist und weil man ihre Arbeitskraft doch ganz nützlich findet.

Schon nach den ersten Strophen ihres Mirolois wird klar, dass es unter der idyllischen Dorfoberfläche gehörig brodelt. Die Gemeinschaft wird von den Geboten der heiligen Khorabel und den strengen, archaischen Gesetzten eines Ältestenrates zusammengehalten; Fehltritte werden ohne Gnade bestraft. Jeder im Dorf hat seine Rolle, seinen von den Göttern bestimmten Platz und muss seine Pflichten erfüllen. Wie im Märchen existieren in diesem kleinen Kosmos nur extreme Gegensätze: gut&böse, schwarz&weiß, das Dorf&das „Drüben“, Mann&Frau. Es gibt die Götter, die Bräuche und die Feste, aber auch den Wächter, den Angstmann und den Pfahl. Fortschritt und Veränderung werden nicht geduldet, weil sie das empfindliche Gleichgewicht des Dorfes stören würden. Als Störfaktor werden auch lesende Frauen, singende Männer und zu viel Wissen des Einzelnen empfunden. Im Verborgenen beginnt die junge Erzählerin diese Welt und ihre Strukturen zu hinterfragen, doch das bleibt im Dorf mit den tausend Augen nicht unbemerkt…

Himmel, was für ein unfassbar bedrückendes, aber auch schönes und mitreißendes Buch! Nach dem Hören der letzten Strophe musste ich mühsam wieder auftauchen aus diesem exzentrischen Kosmos und war unglaublich erschüttert und wütend. Zugegeben, die Ideen und Ansätze, die Karen Köhler in dieser Geschichte verarbeitet, sind keinesfalls neu und innovativ. Das schmälert meiner Meinung nach aber nicht den Wert und die starke Aussagekraft dieses Romans. Die Themen und Fragen, die sie aufwirft, sind brandaktuell und hochpolitisch. Glaube, Fanatismus, Machtmissbrauch. Die Unterdrückung Schwächerer unter dem Deckmäntelchen der Religion. Bestialische Bestrafungen von Verstößen, weil das eben Gesetz ist. Wer sind die Opfer, wer die Täter? Wo ist die Nächstenliebe, wo die Gnade und wo das Verzeihen? Köhler zeigt die komplette Sinnentleerung und Instrumentalisierung des Glaubens auf und welche Eigendynamik und zerstörerische Wucht sich daraus entwickeln kann. Dabei stellt sie keine bestimmte Religion an den Pranger, sondern vermischt bewusst Begrifflichkeiten, Namen und Orte verschiedener Religionen. Das ist ein genialer Kniff, der „Miroloi“ gewissermaßen zur Parabel macht.

Besonders und eigen ist auch die Sprache des Romans. Die namenlose Protagonistin singt ihr Miroloi auf einfache, aber sehr poetische Art. Dinge, die sie nicht kennt oder benennen kann umschreibt sie oder bildet Wortneuschöpfungen. Sie beobachtet genau und beschreibt das Dorfgeschehen sehr bildhaft und detailreich. Ihr Blick auf die Welt ist unverfälscht und hochinteressant und ihre Entwicklung glaubwürdig dargestellt. Ich habe die Sprache sehr genossen und konnte dadurch komplett in der Geschichte versinken. Ich sah die Welt mit ihren Augen und wurde mit ihr „erwachsen“. Das Hörbuch ist übrigens großartig von der Autorin selbst eingelesen. Sie verleiht der Protagonistin eine Stimme, die man nicht so schnell vergisst – sowohl akustisch, als auch literarisch.

Von mir gibt es eine große Leseempfehlung für diesen Roman, auch wenn ich gefühlt die Allerletzte bin, die ihn gelesen hat. Die Geschichte fegte wie ein Orkan durch meine Gedanken und lässt mich auch Tage später nicht los. Sie macht wütend, traurig, nachdenklich. „Miroloi“ ist ein intensives Lese- und Hörerlebnis, auf das ich mich immer wieder einlassen würde.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 17. November 2020 um 23:35

Schöne Rezension.

Naibenak kommentierte am 18. November 2020 um 10:42

Toll!!! <3 Das Buch steht schon was länger auf meiner Wuli... wenn ich es also eines Tages lesen werde, bin wohl ICH die Letzte - hihi ;-)