Rezension

Wer Wind sät, wird Sturm ernten

Tagebuch meines Verschwindens - Camilla Grebe

Tagebuch meines Verschwindens
von Camilla Grebe

Bewertet mit 4.5 Sternen

In dem schwedischen Dorf Ormberg finden 2009 drei Teenager, Anders, Kenny und Malin, das Skelett eines Kindes. Der Fall bleibt ungelöst. Acht Jahre später werden einige Cold Cases wieder aufgenommen, darunter eben dieser Leichenfund, und Malin, inzwischen Polizistin, wird ebenfalls ins Team berufen, da sie hervorragende Ortskenntnisse hat. Zum Team gehören auch Profilerin Hanne und Ermittler Peter, die auch privat ein Paar sind. Die Ermittlungen stagnieren, als eines Tages Hanne verwirrt im Wald aufgefunden wird und Peter verschwunden ist. Hanne kann sich an nichts erinnern, und bei den Bewohnern des Dorfes stoßen Malin und ihre Kollegen auf eine Mauer des Schweigens…

Tagebuch meines Verschwindens ist ein ungewöhnlicher Thriller, bei dem es sehr lange dauert, bis sich scheibchenweise die Mosaiksteinchen ineinanderfügen. Es ist nicht nur ein Whodunnit-Krimi, sondern Psychogramm einer Dorfgemeinschaft und einzelner ihrer Mitglieder. Tatsächlich sind die Hintergründe so komplex und es tauchen immer wieder neue Wendungen auf, dass man als Leser mehrfach aufs Glatteis geführt wird. „Klassische“ Ermittlungsarbeit findet an sich kaum statt, stattdessen erfährt man aus verschiedenen Perspektiven von Malin, dem Jungen Jake sowie Hanne – zunächst in Form ihres Tagebuchs -, was passiert. Die Spannung lebt meines Erachtens stark von der Tatsache, dass sich Hanne nicht erinnern kann und dass das Tagebuch, in dem sie alles notiert, für die Ermittler nicht zugänglich ist und sie daher das Verschwinden Peters und seine Ermittlungsergebnisse nicht nachvollziehen können. Die Autorin macht dies sehr geschickt, denn auch der Leser, der zwar das Tagebuch mitliest, weiß dadurch nicht mehr als die Ermittler.

Den Titel des Buches kann man auf mehrere Aspekte der Geschichte anwenden – vieles verschwindet, Personen und Dinge, doch am erschütterndsten ist das Verschwinden von Hannes Gedächtnis. Das Tagebuch macht deutlich, wie verzweifelt sie ist und wie die Krankheit auch ihre Persönlichkeit verändert. Doch auch Malins und Jakes Innenleben wird intensiv beleuchtet, neben diesen dreien schienen mir die anderen Protagonisten eher schwach dargestellt zu sein. Diese drei sind ganz klar die Hauptpersonen, auf ihnen liegt der Fokus. Über Malin und Jake erfährt man zudem, wie die Dorfgemeinschaft funktioniert, und über allem hängt eine alles in allem düstere Atmosphäre, voller Geheimnisse und ein großes unangenehmes Schweigen, wie es nicht aus Zusammenhalt und Sympathie, sondern aus Misstrauen entsteht. Alle drei machen Entwicklungen durch und erfahren Schicksalsschläge, wobei Jake mir am besten gefallen hat, da er die positivste Wandlung erfährt. Der Fall selber – das tote Mädchen, das Verschwinden Peters – scheint mitunter ein klein wenig in den Hintergrund zu geraten ob dieser starken Präsenz der drei, doch plötzlich, wenn man es gar nicht erwartet, taucht wieder eine neue Entwicklung, eine neue Spur oder Entdeckung auf, und auch durch die persönliche Involviertheit Malins und die sukzessive Annäherung an die Lösung bleibt die Spannung auf einem sehr hohem Niveau. Für mich jedenfalls kamen die vielen Wendungen und die Lösung überraschend und ich fand die Erzählweise der Autorin sehr packend.

Fazit: Ein gelungener Psychothriller mit drei starken Protagonisten, die den Leser in ihren Bann ziehen. Wer blutige Leichen oder Psychoduelle zwischen Ermittler und Täter sucht, wird hier nicht fündig. Stattdessen erwartet ihn ein ungewöhnliches Psychogramm eines Dorfes und die nachdenklich machende Erkenntnis, dass Ormberg in uns allen ist.