Rezension

Who the fuck is Kafka?

Kafka - Reiner Stach

Kafka
von Reiner Stach

Bewertet mit 4.5 Sternen

»Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muss ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es.«

Wer oder was war eigentlich Franz Kafka? Ein an seinen eigenen Maßstäben Gescheiterter? Der ewige Junggeselle, der sich nachtein, nachtaus mit dem ungeschriebenen Wort duellierte? Oder war er doch der Verschollene seiner Selbst, der eines Morgens als Käfer erwachte und seine Schuld in der Strafkolonie suchte? Was veranlasst einen Menschen, seine Protagonisten innerhalb drei Romanfragmente und diversen Erzählungen durch labyrinthartige und unüberschaubare Albträume stolpern zu lassen? Viele, deren Kafkas beklemmende (und dennoch stellenweise humorvolle) Werke bekannt sind, werden sich diese oder ähnliche Fragen gestellt haben - ich eingeschlossen. Mit 'Kafka – Die Jahre der Entscheidungen' bietet Reiner Stach tiefe Einblicke in Kafkas Leben und rekonstruiert fünf Jahre (1910-1915) auf 600 Seiten. Das Buch stellt den zweiten Teil der dreibändigen Kafka-Biographie dar.

»Alles gibt mir gleich zu denken«, schrieb er einmal. Das Leben aber musste er erst übersetzen.

Der Umfang lässt bereits (zu Recht!) erahnen: Stachs Buch bietet keinen reinen Panoramablick auf Kafkas Leben, sondern nähert sich dem Autor – hier konzentriert auf „lediglich“ fünf Lebensjahre - mikroskopisch und bietet sowohl den großen als auch den kleinen Ereignissen genügend Raum, um in die Tiefe gehen zu können. Hierfür zitiert Stach umfassend aus Tagebucheinträgen, Briefen und etlichen anderen Quellen. Besonders der Briefwechsel mit Felice Bauer, mit der Kafka jahrelang eine Beziehung führte, steht hierbei im Fokus. Entgegen der weitverbreiteten Auffassung, Kafka habe seine Verlobte „wie ein Vampir ausgesaugt“, rückt Stach diese Partnerschaft in ein gänzlich neues Licht.

"Denn wenn das geschriebene Wort »Ich« ist, dann ist die Missachtung des Wortes durch die liebste Leserin eine Art Todesurteil, das gänzliche Ausbleiben des Wortes aber gleichbedeutend mit dem Tod selbst."

Des Weiteren fokussiert der Biographieband Kafkas erste schriftstellerische Schritte in die Öffentlichkeit und somit seiner Werke, die während des gewählten Zeitraums entstanden: 'Das Urteil', 'Die Verwandlung', 'Der Verschollene', 'Der Process', 'Das Schloss' und weitere Erzählungen. Hierbei verzichtet Stach beinahe gänzlich auf literaturwissenschaftliche Textanalysen, sondern widmet sich eher der Entstehung von Kafkas schöpferischen Schaffenskraft; sprachliche und autographisch-bezogene Eigenheiten erklärt Stach nachvollziehbar und gut zugänglich. Somit rate ich dazu, das eine oder andere Werk vorab gelesen zu haben, da man ansonsten gespoilert werden könnte.

"Denn Kafka schläft niemals. Ihm unterlaufen keine Phrasen, keine semantischen Unreinheiten, keine schwachen Metaphern – auch dann nicht, wenn er im Sand liegt und Ansichtskarten schreibt. Seine Sprache >fließt< nicht aus sich selbst, noch tritt sie jemals über die Ufer; sie wird beherrscht, wie ein glühendes Skalpell, das durch Stein dringt. Kafka übersieht nichts, vergisst nichts."

Während des Lesens hatte ich oftmals das Gefühl, Stach sei der auktorialer Erzähler und Kafka der Protagonist des eigenen Lebens, da die Erzählweise sehr lebendig und bildreich ist. Die Grenzen zwischen Biographie und einem biographischen Roman nahm ich hier sehr fließend wahr. Sobald sich weiße Lücken auftun, füllte Stach diese jedoch nicht, sondern lässt sie im Raum stehen, was ich sehr ehrlich und somit angenehm fand. Wer treffende Formulierungen und gute Bilder zu schätzen weiß, kommt hier ebenfalls auf seine Kosten; so umschreibt Stach bspw. einen Brief als „nach Tinte schmeckende Träume“. Der Schreibstil ist mitunter sehr detailliert und manchmal etwas ausschweifend. Historische Ereignisse, wie bspw. der erste Weltkrieg, die Frage nach der jüdischen Identität und Kafkas Umfeld werden ausführlich beleuchtet und ebenfalls in Bezug auf Kafka gestellt. Bezüglich ersteres erfährt man – wie nebenbei – vieles über das damalige Leben allgemein. Oder wusstet ihr, dass man die Reclam-Hefte früher an einem Automaten erwerben konnte?

»[…] in die Zukunft gehen kann ich nicht, in die Zukunft stürzen, in die Zukunft mich zu wälzen, in die Zukunft stolpern das kann ich und am besten kann ich liegen bleiben.«

Manchmal hatte ich jedoch das Gefühl, dass Stach sich selbst gerne reden hört (die 10-seitige Einleitung singt davon ein Lied...); der eine oder andere Satz wirkte auf mich aufgrund der umständlichen Formulierung  arg konstruiert. Summa summarum fand ich den Schreibstil gut leserlich und mitunter angenehm anspruchsvoll.  Vereinzelt Wörter, wie bspw. „feedback“, konnten mir hingegen gar nicht schmecken. Warum sich Stach gegen das Wort 'Rückmeldung' oder 'Resonanz' entschied, ist mir schleierhaft. Ich empfand die eingestreute englische Wortwahl als störend, aber das ist gewiss Geschmackssache. 

Dass Stach die Person Kafka nicht mystifiziert, sondern als Prager Versicherungsbeamten, der ein kräftezehrendes Doppelleben zwischen Literatur, Beruf, Familie und Liebe führte, darstellt, macht die Biographie - meiner Meinung nach - sehr gelungen. Wenn Stach beschreibt, unter welchen Umständen Kafka das tat, was er tun musste (schreiben und zweifeln - er konnte nicht anders) und gleichzeitig Angst davor hatte, den Verstand zu verlieren, schafft Stach sehr berührende Momente. Ein paar Seiten weiter schildert Stach, wie Kafka bei seiner Lesung zu 'Der Process' in lautes Lachen ausbrach. Wenn es Stachs Ziel war, Kafka als eine allzu menschliche Person wahrzunehmen, die Freude, Liebe, Wut und Angst empfand und - wie jeder von uns - ihre Licht- und Schattenseiten hatte, dann ist ihm dies wunderbar gelungen. 

»Ich werde Ihnen«, sagte Kafka, »immer viel dankbarer sein für die Rücksendung meiner Manuskripte als für deren Veröffentlichung.«

Abschließend möchte ich noch schreiben, dass ich den ungewöhnlichen Herrn aus Prag noch nicht gänzlich greifen kann – ein Hauch von Mysterium kleidet ihn zugegebenermaßen ganz gut -, aber nach Beendigung der gesamten Biographie werde ich wohl öfters 'Franz' anstatt 'Kafka' sagen. Obgleich ich zwei kleine Kritikpunkte nannte, werde ich dem Buch dennoch die volle Punktzahl geben, da ich  bangte, den Kopf schüttelte, lachte und es am liebsten nicht mehr beiseite gelegt hätte. Selten las ich eine solch ausführliche Biographie. Chapeau, Herr Stach, die 18 Jahre Arbeit haben sich gelohnt! Eine Empfehlung für jeden, der in Kafkas Kosmos abtauchen möchte.

»Mehrmals in der Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken.«