Rezension

wichtig und interessant

Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war - Christian E. Weißgerber

Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war
von Christian E. Weißgerber

Weissgerber zeigt hier wie und warum er Neonazi wurde. Er wuchs in Eisenach mit seiner älteren Schwester bei seinem (gewaltvollem) Vater auf, absolvierte das Abitur, besuchte die Bundeswehr, aus der er (unehrenhaft) entlassen wurde und studierte dann Philosophie und Sprechwissenschaften in Jena.

Weissgerber betätigte sich schon früh aktiv in der rechten Szene, gründete eine Jugendgruppe, organisierte die verschiedensten Aktionen, trat bundesweit als Redner und auch als Liedermacher auf.

In diesem Buch stellt er nun dar, wie Radikalisierungsprozesse vonstatten gehen. Einerseits auf- seiner- individuellen Ebene, andererseits auf allgemeiner Ebene, also auf sämtliche radikalen Ideologien bezogen.

Man erfährt sehr viel über verschiedene Nazigruppierungen und -schattierungen sowie die zugrunde liegende(n) Ideologie(n) und Weltbilder. Er erörtert einige historische Bezüge und Symboliken, zeigt Verbindungen zu Verschwörungstheorien und alternativer Geschichtsschreibung auf und stellt bestehende (toxische) Männlichkeitskonstrukte dar. Er besieht sich etwas näher die Burschenschaften, die Bundeswehr, NPD und AFD und zitiert und interpretiert immer wieder einschlägige Lieder.

Es wird deutlich, wie weit rechtes Gedankengut in der Gesamtgesellschaft verbreitet ist und wie gut die rechte Szene vernetzt ist, auch international.

Darüber hinaus steckt viel Gesellschaftskritik in diesem Buch und zeigt, wie die aktuelle politische Lage die Ausbreitung national- sozialistischer Ideen begünstigt.

Der Schreibstil des Autors ist sehr klar und flüssig lesbar, wenn er über seine eigenen Erfahrungen schreibt. Manchmal war hier die Atmosphäre reichlich bedrückend und beklemmend, so dass ich hier und da Pausen einlegte. Wenn er dann eher abstrakte Themen berührt, was er recht häufig tut, da er sich recht intellektuell den Themen nähert, werden seine Sätze etwas schwieriger zu verstehen. Hier hätte er sich vielleicht hin und wieder etwas leichter ausdrücken können.

Der Rahmen des Buchs ist seine Biographie und innerhalb derer schreibt er essayistisch und sehr assoziativ. Manchmal wird es dann zum einen etwas ausschweifend und zum anderen wirkt es immer wieder recht sprunghaft. Darunter leidet die Strukturiertheit. Hilfreich wäre auch ein kleines Glossar gewesen.

Nichtsdestotrotz ist es ungemein interessant, was er zu sagen hat und hat mich sensibilisiert. Vieles war mir so nicht bewusst und es gab mir reichlich Stoff zum Nachdenken. Besonders bereichernd empfand ich die Darstellung der zugrundeliegenden Ideologie mitsamt der Argumentationsweise inklusive der Verschleierungstaktiken.

Weissgerber wirkt ehrlich, selbstkritisch, auch selbstironisch. Das gefällt mir und ich empfinde seinen Ausstieg und seine Perspektive als sehr glaubhaft. Er bezieht durchgehend Stellung und seine Kritik am Nazi-Sein wird klar und deutlich. Ebenso seine Hinwendung zu Pluralismus und Demokratie. Gern hätte ich noch detaillierter erfahren, was alles ganz genau zu seinem Ausstieg führte. Gerade diesen Prozess zu beschreiben ist auch wichtig, um zu erkennen, was man wirkungsvoll gegen Nazi Vertreter tun kann. Dies beschreibt er zwar auch, aber es hätte einfach noch etwas detaillierter sein können.

Ich habe 1993 das Buch " Die Abrechnung. Ein Neonazi steigt aus" von Ingo Hasselbach gelesen. Und ich muss sagen, hier gibt es einige Parallen, aber auch einige Unterschiede. Unterschiede vor allem natürlich in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und bezogen auf die Vielfältigkeit und Verbreitung der Naziszene. War Hasselbach noch eher in der Subkultur verortet, erschreckt Weissgerbers Fazit zu den heutigen Verhältnissen:

"Rassismus als vorgeblich konservative Position ist inzwischen im öffentlichen Raum salonfähig geworden. Ein Grossteil der ideologischen Grundannahmen, für die wir damals noch am rechten Rand des politischen Spektrums stritten, zählt heute zum Kanon konservativer Migrationspolitik" (S.229).

Und gerade deshalb ist das Buch wichtig und sehr aufschlussreich. Wegen des Inhalts dieser stets aktuellen Thematik bekommt es von mir 5 Sterne, wenn gleich auch die Form mitunter etwas anstrengend und unstrukturiert erscheint.