Rezension

Wichtiges, berührendes Zeitdokument

Gehen, ging, gegangen - Jenny Erpenbeck

Gehen, ging, gegangen
von Jenny Erpenbeck

Bewertet mit 4 Sternen

Richard, kürzlich emeritierter Professor für alte Sprachen und bereits Witwer, möchte in seinem neuen Dasein einen Sinn finden. Er strukturiert sein Leben durch, wohnt allein in einem großen Haus in ehemals Ost-Berlin an einem See, in dem letzten Sommer jemand ertrunken ist und noch immer nicht gefunden wird. Als er am Berliner Oranienplatz mit Flüchtlingen aus Afrika in Berührung kommt, wächst in ihm eine Idee, ein Auftrag. Fein säuberlich erstellt Richard einen Fragenkatalog, um damit zur neuerlichen Unterkunft der Flüchtlinge zu gehen und diese zu befragen. Schon bald ist Richard fast täglich dort, freundet sich mit einigen an, hört sich ihre Geschichten an und versucht zu helfen. Sein Blick ändert und erweitert sich. Und immer wieder schweift Richard in Gedanken zu seiner verstorbenen Frau und auch zur Wendezeit in Berlin, die er durchlebt hat. Zieht Parallelen zur Situation der Flüchtlinge, merkt aber bald, dass deren Vergangenheit viel komplexer ist, als er es sich je erträumt hätte. Ebenso die aktuelle Situation.

Als Leser begeben wir uns in Richards Gedankenwelt, die sehr authentisch und sprachlich passend dargestellt wird. Mal sind es lange verschachtelte Gedankengänge, dann wieder unvollständige Sätze oder aber Einwortsätze. In diesen etwas ungewöhnlichen Sprachrhythmus hineinzufinden, der außerdem gänzlich ohne wörtliche Rede auskommt, hat mich einige Seiten gekostet. Dann jedoch fließt es wie von selbst. Man merkt die Entwicklung von Richard im Verlauf der Geschichte. Oft sind Gedanken zur Menschheit, zum Lebenssinn, zur aktuellen Flüchtlingssituation oder auch zu ganz eigenen Reaktionen sehr eindrücklich und berührend beschrieben.

„Er ärgert sich, aber worüber eigentlich? Dass der Afrikaner nicht so glücklich und dankbar ist, wie er es von ihm erwartet? Dass der Afrikaner ihn, den einzigen Deutschen von draußen, der, wie es scheint, jemals dieses Heim hier freiwillig betritt, einfach vergisst? Vielleicht auch darüber, dass der Afrikaner nicht verzweifelt genug ist, um seine Chance zu erkennen? Oder eher darüber, dass er ihm, Richard, durch seine Achtlosigkeit beiläufig klarmacht, dass das Angebot mit dem Klavierspielen keine Chance darstellt, sondern allenfalls einen geringfügig besseren Zeitvertreib als das Schlafen? Damals, in den Diskussionen, die der Trennung seiner Geliebten von ihm vorausgegangen waren, hatte sie mehrmals gesagt, nicht das Ausbleiben dessen, was er erwarte, sei das Problem, sondern seine Erwartung.“ (S.145)

Abwechselnd mit diesen – Richards – Gedanken, die manches Mal durchaus etwas (zu) gefühlsduselig wirken, erzählen die Flüchtlinge ihre Geschichten, was wiederum sehr reduziert und telegrammartig dargestellt wird. Hier sprechen die nackten Tatsachen für sich. Aber selbst das ist teilweise an der Grenze des Erträglichen. Hinzu kommt der Bürokratiewahnsinn, der einfach nur frustriert und ebenso die allgegenwärtigen Berührungsängste der Berliner, der Hass und die Aggression, die Richard beim Durchstöbern einiger Internetforen entgegenschlagen...

„ Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nur in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie Krieg aussieht?“ (S.298)

Jenny Erpenbeck zieht in diesem hochaktuellen Roman einen großen Bogen über die Themen: Veränderung/Angst vor dem Unbekannten/ Erinnerung & Trauerbewältigung. In unterschiedlicher Ausprägung treffen nämlich diese Kernthemen auf alles zu: auf das Altern von Richard als Witwer im Ruhestand, auf die Wendezeit im ehemals geteilten Berlin, auf die Flüchtlingssituation. Ich hätte mir manches Mal gewünscht, dass die Autorin auch einen Blick aus einer anderen Perspektive wagt. So wirkt der Roman stellenweise doch sehr einseitig und „vorgesetzt“, teilweise auch ein wenig kitschig und unrealistisch. Doch will ich ihr dies verzeihen, denn dieser Roman ist meiner Meinung nach ein wichtiges deutsches Zeitdokument zum einen und außerdem eine berührende Geschichte eines alternden Mannes.

Fazit: Sollte man lesen! Wichtig und berührend. Schöne Stilistik. Informativ und aufrüttelnd mit guter Message.

Kommentare

Sibylle P. kommentierte am 28. Juni 2017 um 22:41

Eine wundervolle Rezession und ein Buch, was unglaublich neugierig macht!

Naibenak kommentierte am 29. Juni 2017 um 06:14

Schön, danke!

wandagreen kommentierte am 28. Juni 2017 um 23:05

Ja, ich mochte es auch, aber ich hatte Kritikpunkte.

Naibenak kommentierte am 29. Juni 2017 um 06:14

Ich auch! ;)

wandagreen kommentierte am 29. Juni 2017 um 08:16

Jetzt, wo dus sagst!

LySch kommentierte am 03. Juli 2017 um 10:01

Super hübsche Rezi, Bi!

Da es 2015 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises war und mich die Thematik sehr angesprochen hat, habe ich mir die Leseprobe durchgelesen. Leider wurde ich damals nicht ganz warm mit ihrer Schreibe...

Naibenak kommentierte am 03. Juli 2017 um 10:30

LySchi...ja, die Schreibe ist etwas spezieller. Man gewöhnt sich aber dran ;) Manches Mal fand ich sie nicht ganz so prickelnd... aber das sind dann die Feinheiten ;) Inhaltlich ist es echt gut!