Rezension

Wichtiges Sachbuch, das sich mit der digitalen Entwicklung beschäftigt

Jäger, Hirten, Kritiker - Richard David Precht

Jäger, Hirten, Kritiker
von Richard David Precht

Bewertet mit 4 Sternen

"Und die Bedürfnisse nach Geld, Ruhm und Macht könnten besser gezügelt sein - aber all das will die digitale Revolution gar nicht optimieren! Sie möchte Gewinne optimieren! Und »Optimierung« beim Menschen bedeutet, ihn maschinenähnlicher zu machen - also nicht etwa humaner, sondern weniger human!" S.21

Den Übergang zu einer funktionierenden "digitalen" Gesellschaft zu schaffen, scheint laut Precht alles andere als einfach zu werden. Dies liegt aber nicht daran, dass dies nicht möglich sei, sondern eher daran, dass man sich in vielen Bereichen viel zu wenig und viel zu langsam um die Fortschritte und Veränderungen gekümmert hat und weiterhin kümmert, die unaufhaltsam ihren Lauf nehmen.
"Jäger, Hirten, Kritiker" geht dabei auf sehr viele Bereiche unseres Lebens ein, welche von der Digitalisierung maßgeblich betroffen sind. Schnell wird einem bewusst, dass dies eigentlich alle Bereiche unseres Lebens sind. Die Entwicklung macht kaum noch vor etwas Halt. Auch wenn wir uns zum Beispiel bemühen unser Leben mit Maschinen, selbstfahrenden Autos oder den sozialen Medien bequemer und unterhaltsamer zu machen, nimmt dies wieder Einfluss auf die Politik, auf die Arbeitswelt, auf unser Wohlbefinden, auf das Klima und natürlich auf die enorme Masse an Strom, die wir dadurch verbrauchen.
Eines wurde mir beim Lesen ganz deutlich: man weiß, dass sich etwas verändern muss, aber keiner scheint genau zu wissen, wie man das erreichen soll ohne das ganze "System" komplett umzukrempeln.
Und ganz besonders ertappt fühlt man sich beim Lesen natürlich dabei, wenn Precht erwähnt, dass alle wissen, was für Auswirkungen der massive Konsum an digitalen "Lebenserleichterern" hat und es so nicht weitergehen kann, aber alle denken, es betreffe sie ja nicht direkt.
Natürlich kann man für Prechts ausführliche Argumente wieder Gegenargumente finden, die das Ganze etwas schmälern, denn wie er auch selbst im Nachwort einräumt, klingt das Buch an vielen Stellen "sehr negativ", aber im Großen und Ganzen finde ich muss man sich eingestehen, dass man nach der anfänglichen Euphorie des "schönen, spannenden Internets" viele Schattenseiten entdeckt, die man nicht einfach abmildern sollte.
Der Erzählstil ist dabei immer verständlich und geht meist nicht zu sehr ins Detail, was aber dafür sorgt, dass man, so ironisch es klingt, gerne von den ganzen Schattenseiten liest. Einiges wiederholt sich zwar, aber es werden dennoch ausreichend Beispiele aufgegriffen, die einen guten Überblick über die Thematik vermitteln. Für mich persönlich war es an einigen Stellen etwas knifflig, wenn er von den ganzen "menschlichen" Seiten erzählt, die natürlich durch die Kultur geprägt sind, aber in meinem Studium wurde mir ernüchternd beigebracht, dass der Mensch bis auf das Essen, Schlafen und eventuell die Sexualität ansonsten komplett aus Kultur besteht. Wenn also gesagt wird, es liegt nicht in der Natur des Menschen, sich so und so zu verhalten, um sich wohl zu fühlen, muss man bedenken, dass dies auch sozio-kulturell geprägt ist. Dies sind aber persönliche Überlegungen, die zusätzliche Gedanken aufgeworfen haben. Positiv ist dabei aber, dass man sich eben auch mit weiteren Fragestellungen konfrontiert sieht.

"Viel mündiger, weil kundiger, ist die Summe meines Verhaltens, in Algorithmen erfasst, erzählt es mir nicht nur, was ich getan habe und wer ich bin, sondern auch, was ich als Nächstes tun werde. In dieser Welt ist für Freiheit im altmodischen Sinne kein Platz mehr, allenfalls für die Freiheitsillusion, die Menschen halt so brauchen wie ab und zu einen Blick ins Grüne, hinreichend Sport und ganz viel Anerkennung." S.69

Was das Buch vor allem in den Vordergrund rückt, ist die wichtige Tatsache, dass unsere Gesellschaft durch die Digitalisierung auf eine neue Arbeitswelt umsteigt und es an vielen Ecken, an neuen Ideen und Lösungen fehlt. Wie sollen Menschen immer stärker von Maschinen ersetzt werden, aber weiterhin als wertvoller Teil der Gesellschaft angesehen werden, wenn es keine neuen Jobs geben wird, weil die Politik dieser Digitalisierung eher den Rücken kehrt und sich vor ihr verschließt?
Es ist tatsächlich jetzt schon wahrzunehmen, dass Menschen immer unzufriedener sind, weil alles nur auf Optimierung und Geldersparnis ausgelegt ist und der Mensch nur als schnödes Mithängsel angesehen wird. Die digitalen Fortschritte ermöglichen uns viele Ersparnisse an eigener Kraftaufwendung, eliminieren aber zeitgleich die Existenzsicherung vieler arbeitstätiger Menschen. "Jäger, Hirten, Kritiker" greift auch hier viele Szenarien auf, wie sich die Situationen weiterspinnen könnten und wozu das Ignorieren der Unzufriedenheit führen kann.
Natürlich werden hier keine Wunderlösungen angeboten, das ist schlicht und einfach auch nicht möglich, weil alles so in einander verwoben ist, dass es keine einfache Lösung geben kann, aber es gibt einige Denkanstöße, wie wir unser Verhalten den digitalen Entwicklungen gegenüber lenken sollten, um uns nicht vollkommen auf den Glanz, der uns von den "Silicon Valley Geeks" (wie von Precht genannt) vermittelt wird, blind vertrauen sollten.
Aufgegriffen werden nämlich eben auch die Fragen rund um Privatsphäre, Datensicherheit und die vielleicht eintretende Überschöpfung der Menschen durch einen "Overload" an den träumerischen Vorstellungen der Social-Media-Welt und des ernüchternden Alltags. Wie stark soll sich der Mensch noch mit anderen Messen, bis er dem nicht mehr standhalten kann? Und wenn es jeder Einzelne nicht mehr kann, dann hat die Gesellschaft im Ganzen auch eine eher schwierige Zukunft vor sich.

“Dass der Staat gefordert ist, selbst viel aktiver auf den Plan zu treten, zu regulieren, Anreize richtig zu setzen und den Sozialstaat komplett umzubauen. Und dass er die Menschen nicht orientierungslos lassen darf beim Übergang von der klassischen Arbeits- und Leistungsgesellschaft zu einer neuen Gesellschaft.” S.25

Insgesamt: Ein Sachbuch, das den Nerv der Zeit trifft. Die sich weiter entwickelnde und fortführende Digitalisierung ist natürlich nicht aufzuhalten, aber hier werden einige Denkansätze angestoßen, die aufzeigen, dass man sich nicht allem völlig unüberlegt hingeben sollte. Hinsichtlich dieses Fortschritts werden Szenarien in beinahe allen Gebieten der Gesellschaft aufgegriffen. Wie ist unser Privatleben und privater Konsum davon betroffen? Wo müsste die Politik eingreifen? Wie wirkt sich dies auf unsere zukünftige Arbeitswelt aus? Wie soll man die Masse an Stromverbrauch überhaupt stemmen? Kann man in den nächsten Jahren überhaupt eine so schnelle Umsetzung in Angriff nehmen ohne einen vorher eintretenden "Kollaps" zu riskieren? Viele wichtige und interessante Fragen, die vielleicht auf den ersten Blick sehr negativ wirken, aber eigentlich das Gegenteil bewirken sollen. Denn greifen wir früh genug an den Problemstellen mit an, kann uns die Digitalisierung tatsächlich einige Vorteile bieten. Der Erzählstil fordert den Leser zudem nicht dazu auf, allem zuzustimmen, sondern sich in verschiedene Richtungen umzusehen und sich selbst mit diesen aufgeworfenen Fragen zu beschäftigen, die uns betreffen.