Rezension

Wichtiges Thema, aber zu unkomplex

Die Gabe - Naomi Alderman

Die Gabe
von Naomi Alderman

Bewertet mit 2 Sternen

Was wäre, wenn Frauen stärker wären als Männer? Wenn sie eine besondere Gabe hätten, die ihnen eine ungeheure Macht verleiht? Wie schnell würden über Jahrtausende verfestigte patriachalische Strukturen bröckeln? Und wäre die Welt eine bessere? Das ist die Idee hinter Naomi Aldermans Roman "Die Gabe". Von einem Tag auf den anderen sind junge Mädchen plötzlich menschliche Taser. Sie können Elektrizität über Berührung freisetzen und diese Fähigkeit an andere Frauen weitergeben. Das Phänomen verbreitet sich in allen Ländern der Erde. Erzählt wird aus mehreren Perspektiven, hauptsächlich aus der Sicht von vier Personen. Die missbrauchte Allie wird unter dem Namen Mother Eve zur religiösen Führungsfigur. Ihr Weg wird später von Ganoventochter Roxy gekreuzt. Politikerin Cleary will Ausbildungscamps für Mädchen durchsetzen. Der junge Tunde beginnt, das Phänomen der Gabe für die Nachwelt aufzuzeichnen. Eingeklammert wird die Geschichte von einem Briefwechsel in der Zukunft zwischen einem gewissen Neil Adam Armon und Naomi Alderman, ein Anagramm in dem sich die Botschaft noch einmal spiegelt.

Um dieses Buch gab es einen großen Hype, mich hat es nicht überzeugt. Zum einen gibt es Defizite aus handwerklicher Sicht. Zusammenhänge und tiefere Prozesse bleiben vielfach unklar. Auch ist es nie eine gute Idee, die Charakterzeichnung in einem Roman zu vernachlässigen. Die Protagonisten bleiben allesamt blasse Wesen, zu deren Gefühlen und Gedanken mir der Zugang verwehrt blieb. Der Text geht zu sehr in die Breite, bringt Dialoge und Details, die beschreiben, aber kaum zeigen. Ständig habe ich den Überblick über Orte und Gesamtgeschehen verloren. Im ersten Drittel geht es noch, danach wird das Buch zäher und zäher. Ich musste mich zwingen es zu lesen!

Das Thema ist wichtig! Es geht um die ungleiche Verteilung von Macht und deren Missbrauch, in Form von Diskriminierung, sexueller Belästigung und Gewalt. Doch Alderman hat es sich etwas zu leicht gemacht. Zum einen ist ihr Männerbild einseitig. In einigen prägnanten Szenen werden Vergewaltiger, Mörder und machtgeile Politiker gezeigt. Die männlichen Figuren insgesamt bleiben farblos, selbst Tunde, der meistens nur stiller Beobachter ist.

Mit dem Anspruch, ein umfassendes Gesellschaftsbild in dem Buch zu finden, sollte man nicht herangehen, das wird schnell klar. Gespannt habe ich gewartet, was nun noch kommt. Tödliche Stromstöße, angenehme elektrische Schauer, schön anzusehende Funkenbögen... die Frauen beginnen ihre Gabe zu erproben. Und die Männer sehen ihre Felle davonschwimmen. Es kommt zu kleineren Unruhen, handgreiflichen Auseinandersetzungen und in einigen Ländern zur Revolution. Frauen nehmen in Politik/Beruf, Kriminalität, Religion das Ruder in die Hand. Die Verhältnisse kippen. 1:1! Und der Leser ist wieder am Anfang angekommen. Die "Welt der Frauen" ist ein Abbild unserer heutigen, deshalb vielleicht auch gar keine Dystopie. Aber wieder wirkt das Geschehen zu unkomplex. Die Autorin beschränkt sich auf negative Strukturen, geht aber noch mehr in die diskriminierenden Details. So sind es beispielsweise die Männer, die den starken Frauen in der Werbung als Deko zur Seite gestellt werden.

Frauen sind nicht die besseren Menschen. Und ein Ungleichgewicht bei der Machtverteilung führt immer zur Diskriminierung der Minderheit. Da kann man nur zustimmen. Was mich störte, war die schlichte Ausführung. Frauen werden unreflektiert in die vorgefertigten Förmchen von Unfairness und Unrecht gepresst. Mit Blick auf weite Teile der Welt bedeutet das etwa: Sie quälen, verstümmeln, vergewaltigen, morden. Es fehlt an Zwischenmenschlichem, an Feinheiten, wie der Berücksichtigung der kulturellen Prägung, Dinge, die den Entwicklungen Authentizät verpassen. Das Konzept verbraucht sich in dieser Form leider rasant. Alderman entlarvt in vielerlei Hinsicht, aber ihr Roman entpuppte sich für mich als zu unausgereift und nicht vielschichtig genug. Vor allem aber vermisste ich Persönlichkeiten, durch deren Augen ich die Eindringlichkeit des Themas nachvollziehbar erleben durfte.

Fazit: Toller Einfall, wichtiges Thema, sonst in meinen Augen viel heiße Luft. Die Handlung wirkt unausgegoren, interessante Charaktere sind nicht vorhanden und das Verhältnis von Mann und Frau ist zu einseitig. Dieses Buch hat mich nicht berührt. Wie man liest, wird eine Serie draus gemacht. Und das kann ich mir für "Die Gabe" mit ihren breit angelegten Strukturen gut vorstellen. Vielleicht sogar mit etwas Humor? Aus den Kerlen in ihren stromsicheren Gummianzügen ließe sich etwas machen.