Rezension

Wie die Liebe unser Leben prägt

Die einzige Geschichte - Julian Barnes

Die einzige Geschichte
von Julian Barnes

Bewertet mit 5 Sternen

Paul ist 19, als er in einem Tennisclub die verheiratete Susan kennenlernt, die fast 30 Jahre älter ist als er. Die beiden beginnen, zur Zeit der freien Liebe, Ende der 60er/Anfang der 70er, eine Affäre, trotz Ehemann, erwachsenen Töchtern, gesellschaftlichem Stirnrunzeln und missbilligenden Eltern. Paul interessiert das alles nicht, auch praktische Aspekte einer Beziehung kümmern ihn nur nebensächlich - er weiß, dass Susan seine große Liebe ist und will sie aus ihrer vermeintlich schlimmen Ehe retten. Schließlich setzen sich die beiden nach über 2 Jahren Beziehung tatsächlich nach London ab. Reicht ihre tiefe Liebe füreinander, um dauerhaft glücklich zu bleiben, obwohl Susan mehr und mehr mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen hat?

***Spoiler***Dass es in Julian Barnes 'Die einzige Geschichte' zu einem Großteil um eine Suchtproblematik geht, dürfte vieler Leser überraschen. ***Spoiler Ende*** Es ist ein trauriges, aber ganz und gar nicht abwegiges Thema, das Barnes hier thematisiert, und eines, dass jede Beziehung, Altersunterschied hin oder her, auf eine harte Probe stellt. Barnes beschreibt daher nicht unbedingt eine einzigartige Beziehung, und der Leser kann zu Beginn der Erzählung sicherlich auch oft genug den Kopf über das leichtsinnige Verhalten der Protagonisten schütteln und fragt sich vielleicht, wie wenig durchdacht der Autor hier die Dynamik seiner Figuren hat. Doch damit liegt er falsch, was er zu Beginn aber noch nicht wissen kann.

Was nämlich einzigartig (oder zumindest der große Kniff an diesem Buch) ist, ist die Art und Weise, WIE Barnes erzählt. Als Erzähler Paul berichtet er dem Leser quasi über sein Leben und seine Beziehung zu Susan. Erst vom Kennenlernen, dann vom Zusammenleben in London, und schließlich aus der Zeit danach. Barnes/Paul bringt die Entwicklung im Leben Pauls und die jeweils unterschiedliche Gesinnung und Gefühlslage durch einen Wechsel in der Erzählperspektive zum Ausdruck. Es bleibt immer Paul, der berichtet, aber im ersten Teil berichtet er aus der Ich-Perspektive und spricht den Leser locker an, stellt zwischendurch öfter Zwischenfragen und flicht lustige Anekdoten ein. Im zweiten Teil bleibt der Humor zurück, er spricht den Leser (oder sich selbst in der Erinnerung) mit 'du' an, die Gedanken werden strukturierter. Im dritten Teil schließlich ist Paul hinsichtlich der Perspektive bei der 3. Person angelangt und der Humor ist komplett einer eher philosophischen Betrachtungsweise gewichen. Mit der Weisheit des Alters, die Paul im letzten Abschnitt an den Tag legt und dabei auch sein jugendliches Ich durchaus kritisch und ehrlich analysiert, fällt es dem Leser auf einmal sehr viel leichter, Verständnis für den stürmischen jungen Mann vom Beginn des Buches aufzubringen. Die entwaffnende Ehrlichkeit und Selbstkritik ist das, womit Barnes mich in diesem Teil für sein komplettes Buch eingenommen hat. Und der Wechsel in der Erzählweise, der nachfühlbar vermittelt, wie Paul in den jeweiligen Abschnitten seines Lebens 'getickt' hat, was man aber erst mit Voranschreiten der Lektüre realisiert.

Der Leser kann am Ende der Erzählung nachempfinden, was Susan bzw. Paul damit meinen, wenn sie behaupten, dass jeder Mensch EINE Geschichte hat und diese gerade die der Liebe ist. Obwohl Erinnerungen vielleicht nicht im Detail rekonstruiert werden können, prägt einen das Gefühl, dass die eine Liebe in einem erregt hat, möglicherweise ein Leben lang. Dabei muss die Beziehung nicht für immer halten uns sie muss auch nicht durchweg von Sonnenschein beschienen sein. Barnes beschreibt im zweiten Teil des Buches einen sehr steinigen Weg, den Paul mit Susan beschreiten muss, und hier kann man diskutieren, ob überhaupt noch Liebe herrscht zwischen den beiden. Selbst, wenn Pflichtgefühl oder Verantwortung hier die Überhand hat, ist diese doch auch immer noch vom Strahlen der Hoffnung aus den Anfängen der Beziehung beschienen und dass ein Trennungsprozess dann länger dauert, als es für einen oder beide Partner vielleicht gut ist, ist nur ein anderer Aspekt dieser tief empfundenen Liebe. Irgendwie bleibt die Liebe oder ein Schatten davon für immer präsent, auch in der Zeit, die Paul schließlich ohne Susan verbringt. 

 Wie er selbst über diesen Umstand philosophiert, dokumentiert Paul in einem Notizbuch, in dem er Zitate über die Liebe sammelt und hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit wieder und wieder bewertet. Trifft ein Spruch seiner Meinung nach nicht zu, streicht er ihn durch, stellt aber Jahre später vielleicht doch wieder fest, dass er damit falsch lag und schreibt ihn wieder hin. So ist für ihn die Aussage 
"Es ist besser, die Liebe erfahren und verloren zu haben, als nie geliebt zu haben." 
beides - wahr und falsch. Paul kann sich und seine Gefühle nicht komplett erklären, aber so ist das mit Gefühlen. So erklärt sich aber zumindest das Cover des Buches, das perfekt gewählt ist, was sich dem Leser allerdings auch erst nach der Lektüre erschließt.

Je länger meine Rezensionen werden, desto mehr habe ich in einem Buch entdeckt. 'Die einzige Geschichte' werde ich bestimmt wieder und wieder lesen, denn so wie sich Pauls Ansichten mit den Jahren änderten, werde auch ich mich weiter verändern, und meine Ansicht über die Liebe mit mir. Doch dass ich geliebt habe und dass mich das für immer prägen wird, egal was noch kommt - von dem Ausmaß dieses Umstandes hat mir Barnes ein wenig mehr Ahnung verliehen. Und dafür bin ich dankbar.