Rezension

Wie ein Tag am Meer

Das Glück hat acht Arme -

Das Glück hat acht Arme
von Shelby Van Pelt

Bewertet mit 4 Sternen

Obwohl ich im Zeichen des Krebses geboren bin, habe ich es mit Wassertieren nicht so dicke. Die sind mir ohne Fell und Pfoten irgendwie suspekt. Auf meinem Speiseplan haben sie aber auch noch nie gestanden, was mir hoffentlich Pluspunkte einbringt, falls ich mal Auge in Auge einem Hai oder Kraken gegenüberstehen sollte. Wobei ich Kraken durch Shelby Van Pelts Roman in einem ganz neuen Licht sehe. Bisher mochte ich allenfalls das Wort „Tintenfisch“ und habe eine eigenartige Faszination in Bezug auf die Saugnäpfe (wahrscheinlich weil ich die aus dem Haushaltsalltag kenne und sich offensichtlich jemand Gewieftes von den Kraken hat inspirieren lassen), aber die acht Arme der Kraken jagen mir eher Schauer über den Rücken. Dennoch halte ich nichts davon, die Krakenarme zu verspeisen oder den Oktopus gar ins Aquarium zu stecken. Die Riesenkraken werden nur drei bis fünf Jahre alt, wie traurig diese kurze Zeitspanne in einem Wassertank verbringen zu müssen. Dem Pazifischen Riesenkraken Marcellus wird genau dieses Schicksal zuteil. Er lebt in dem kleinen Ort Sowell Bay an der amerikanischen Westküste und ist von seinem Mikrolebensraum enorm gelangweilt. In der Nacht vertreibt er sich daher mit kleinen Abenteuern die Zeit und gerät in eine missliche Lage, aus der ihn die Reinigungsfrau Tova befreit. Aus dieser Begegnung entspinnt sich eine außergewöhnliche Freundschaft, in der Marcellus den begriffsstutzigen Menschen das ein oder andere Mal einen ordentlichen Wink mit dem Fangarm geben muss.

Shelby Van Pelts Roman ist wie ein sonniger Tag am Meer. Herzerwärmend, den Kopf frei pustend und die Hosentaschen voller Sand. Sie hat einen besonderen Blick für ihre Romanfiguren und erzählt souverän aus der Sicht ihrer drei Hauptcharaktere. Während Tovas und Camerons Perspektive durch einen personalen Erzähler erlebt wird, lässt Shelby Van Pelt den Riesenkraken aus der Ich-Perspektive erzählen. Das hat einen erstaunlich harmonischen wie glaubwürdigen Effekt, weil ich mir wirklich im Laufe der Geschichte vorstellen kann, dass Marcellus dieser oberschlaue Oktopus ist. Obwohl ich natürlich weiß, dass er seine Geschichte dennoch nicht selbst erzählen hätte können. Ja, es ist Fiktion, aber ich lasse mich gern hineinfallen in diese Geschichte und beobachte diese verschiedenen Leben, drücke ihnen die Daumen oder möchte sie zurückhalten von ihren aktuellen Plänen oder versinke mit ihnen in die Vergangenheit und lasse mir ein wenig von früher erzählen. Eine gute Handvoll Figuren und doch ist diese Geschichte reich an so vielen verschiedenen Themen. Einwanderung in die USA aus Europa, Verlust eines Kindes vor der Zeit, alt werden, jung sein, Identitätssuche, Sinnsuche, Drogenmissbrauch, Freundschaft, Beziehungen, Liebe, Gefangenschaft – und dennoch verliert der Roman nie seinen aufrichtigen Grundton und den Bezug zu seinen Figuren. Beides hat mich wirklich mitgenommen und berührt, ich konnte mich in die Charaktere hineinfühlen und war dadurch ganz dicht dran an der Geschichte. Aufgewühlt und durchgepustet, aber mit ganz viel Herzenswärme wie nach einem Tag am Meer.