Rezension

Wie falsch bläst die Dorfmusik?

Die Dinge beim Namen -

Die Dinge beim Namen
von Rebekka Salm

Auf dem Dorf sind alle miteinander verbunden und jeder weiss etwas von jedem. Die sechzehnjährige Sandra zum Beispiel wurde nach einem Unterhaltungsabend des Musikvereins schwanger. Das war 1984. Wie genau das passiert ist, dafür gibt es einige Zeugen, doch ihre Geschichten lauten völlig anders. Doch laut darüber spricht keiner. Und jetzt hat der Vollenweider einen Roman über diese Geschichte geschrieben. Die Dörfler sind sich einig: das geht gar nicht. Rebekka Salm ist eine junge, neue Erzählstimme, also ein Muss für Leute, die sich gerne Schweizer Literatur einverleiben.

Auf dem Dorf ist die Welt nicht in Ordnung. Auch nicht, wenn die Dorfmusik bläst. Man erinnert sich auch gut an jenen Abend in den Achtzigern, als der Musikverein zur Unterhaltung aufspielte. Einige wollen alles gesehen haben, doch ihre Erinnerungen sind total verschieden: War es eine Verführung; eine Vergewaltigung; Sex in beiderseitigem Einverständnis; etwas, was halt passiert, aber nichts, was nicht mit einer Hochzeit geregelt werden könnte? Der Interpretationen gibt es je nach Blickwinkel einige.

So jedenfalls erzählt es uns Rebekka Salm. Sie lässt dabei ihre zwölf Protagonisten oder Randsteher selber zu Wort kommen. Das ist kein neues, aber bewährtes schriftstellerisches Verfahren. Mir gefällt, wie Salm das Dorf beschreibt: die Gemeinschaft von Menschen, die sich schon lange kennen, miteinander zu Schule gingen. Die Art von sozialer Kontrolle, die genauso gut als Nachbarschaftshilfe daherkommt. Die Art, wie man eine Balance sucht zwischen Dazugehören und Sich-selber-bleiben. Die Schublädchen, in die man sich gegenseitig steckt. Man weiss, wer in welcher Familie gross geworden ist oder klein gehalten wurde. Die Häuser, Felder, Strassen und ihre älteren oder neueren Geschichten. Und dann die Neubaugebiete, die irgendwie mitsamt zugezogenen Bewohnern nicht ins Bild passen.

Ich bin anfangs gerne in diese Welt eingetaucht, denn so oder ähnlich funktioniert das Dorf, in dem ich lebe. Doch dann, im Laufe des Lesens, habe ich zunehmenden Ärger verspürt. Ärger über die Figuren in dieser Geschichte. Beispielsweise die Frauen: die eine ist berechnend und betrügt sie ihren Ehemann; dann kommen selbstverständlich auch eine aus dem Osten stammende Dorfhure namens Chantal (wie sollte sie auch sonst heissen) vor, eine rabiate Coiffeuse und eine Verkäuferin, die sich wochenends in der Stadt rumtreibt, um Männer aufzureissen und zu benutzen. Ach ja, da ist auch noch Melanie, die nicht merkt, dass ihr Gatte es lieber mit Männern treibt. Womit auch noch das Thema Schwule abgehakt ist, nachdem der ewige Junggeselle (trauert immer noch seinem Jugendschwarm nach) und der käfersammelnde schräge Vogel abgearbeitet wurden. Die Männer in dieser Story: die lösen ihre Differenzen, indem sie sich verprügeln und entledigen sich ihres Frusts bei Chantal.

Ihr merkt es schon: das ist mir alles zu plakativ. Und irgendwie fühlte ich mich als Dorfbewohnerin nicht ernst genommen. So als wären alle Landbewohner etwas doof, etwas rückständig. Das passt natürlich alles in die derzeit und vor allem nach Abstimmungen beliebte Diskussion von einem Stadt-Land-Graben, die in dieselbe Kerbe haut. Und das in einem Land, das so dicht besiedelt ist, dass keiner mehr weiss, wo die Stadt aufhört und das Land beginnt. Wo die Städter immer weiter von der City weg wohnen.

Womit wir wieder bei den Neubaugebieten in den Dörfern sind.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in der Absicht der Autorin lag, die Dörfler (sprich Eingeborenen) zu diffamieren und ein Frauenbild aufleben zu lassen, das in die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts passen würde. Insgesamt finde ich diese Wirkung des Romans auf mich recht bedauerlich, denn eigentlich gefallen mir Salms unverstellte Art des Erzählens und vor allem ihre wunderbaren kleinen Satz-Preziosen. Deswegen bin ich sehr gespannt auf ihr nächstens Werk.