Rezension

Wie können wir aus dem eigenen Haus wieder auf die Welt vor unserer Tür blicken?

Die psychotische Gesellschaft - Ariadne von Schirach

Die psychotische Gesellschaft
von Ariadne von Schirach

Bewertet mit 5 Sternen

Verhaltensoriginelle Staatsoberhäupter und Mega-Konzerne, die keine Steuern zahlen – unsere Gegenwart scheint gerade jede Dystopie in den Schatten zu stellen. Doch nationalistische Tendenzen und das Zurückschrauben von Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen sind längst keine utopischen Spielereien mehr. Ariadne von Schirach vergleicht den Zustand allgemeiner Auflösung unserer Gesellschaft (nach Nicholas Luhmann) mit einer akuten Psychose aufgrund einer Funktionsstörung. Ein Psychotiker ist sich selbst fremd, verliert die Unterscheidung zwischen seinem Ich und der übrigen Welt. Vorausschauendes Denken und Impulskontrolle kommen dem Erkrankten abhanden. Auf gesellschaftlicher Ebene vergleicht die Autorin die Erkrankung mit dem derzeitigen postfaktischen Zeitalter, in dem Zweifel an der Wirklichkeit und kollektive Wahnideen den gesunden Menschenverstand abgelöst haben.

Das Bild eines Hauses, das unbewohnbar geworden ist, trägt von Schirachs kluge Analyse durch das gesamte Buch hindurch. Das Haus steht im Gegensatz zum öffentlichen Raum für Heimat und Geborgenheit, es vermittelt seinen Bewohnern Identität. Die Tradition, in der wir bauen, ob wir unsere Häuser einzäunen oder einen Blick nach innen gestatten, charakterisiert unsere Kultur. Die Trennung von privat und öffentlich ging bereits in der Antike zu Lasten von Frauen, Sklaven und Fremden, mahnt die Autorin. In einer ehemals offenen westlichen Kultur scheint aktuell die Abgrenzung zwischen innen/außen, fremd/vertraut, erlaubt/verboten verschoben. Mehrdeutiges, Widersprüchliches oder Veränderbares scheint keinen Platz mehr zu haben. „Wer für das Eigene keinen Sinn hat, kann das Fremde nicht begreifen.“ Dass jede Kultur hinterfragbar und veränderbar ist, geriet in der derzeitigen Wertekrise aus dem Blick. Eine Welt, die in einigen Bereichen unbewohnbar geworden ist, und Häuser, die ihre Bewohner nicht mehr schützen, stehen für eine kollektive Identitätskrise.

Hochinteressant fand ich von Schirachs Beobachtung, der menschliche Focus sei beschränkt auf nur ein Objekt/Thema. Unsere Fähigkeit zur Fokussierung, unsere Wahrnehmungsfähigkeit und Urteilsfähigkeit nehmen ständig ab, während die Gleichzeitigkeit von Ereignissen in den Sozialen Medien in einer globalisierten Welt wachsende Anforderungen stellen. Ein beschränkter Fokus des typisch westlichen Individualisten könnte wachsende Intoleranz erklären und seine mangelnde Fähigkeit zur Einfühlung in andere. Die Ablehnung, ein Fremder könnte „so sein wie ich“ führt direkt zur Forderung nach einer geschlossenen Gesellschaft, nach patriarchalen, frauenfeindlichen und homophoben Strukturen.

Von Schirach nennt eine ganze Liste von Ursachen, die in unsere virtuelle Scheinwelt geführt haben, vom Neoliberalismus (Reichtum für wenige, Abwälzung von Risiken und gesellschaftlichen Problemen auf das Individuum, ein der Wirtschaft gehorchender Staat, Verbrauch/Verkauf von Natur als Lebensgrundlage), über die komplette Vermessung und Kontrolle unserer Welt, das Outsourcen von Beziehung an bezahlte Kräfte, den Selbstoptimierungs- und Performancewahn des „Quantified Self“, die Gleichsetzung von Selbstwert und Marktwert und schließlich die Instrumentalisierung von anderen Menschen, die selbst soziale Beziehungen zur Ware macht.

Nicht alle fiktiven Schicksale haben mich interessiert, die die Autorin zur Illustrierung ihres Welten-Modells im Buch auftreten lässt. Die Etikettierung einer ganzen Gesellschaft mit einer psychiatrischen Diagnose als süffiger Schlagzeile finde ich durchaus fragwürdig; denn ist das nicht genau jenes Werkzeug, das sich an Menschen "mit beschränktem Fokus" wendet?

Die Frage, wie unser Horizont erweitert, unsere Urteilskraft gestärkt und unser Blickwinkel aus dem eigenen Haus wieder auf die „Polis“ gerichtet werden kann, muss jeder Leser für sich beantworten. Von Schirach liefert das Material dazu und zeigt sich mit klug gewählter, sehr aktueller Grundlagenliteratur als belesene Ratgeberin.