Rezension

Wie schreibt man den perfekten Roman?

Bleak House - Charles Dickens

Bleak House
von Charles Dickens

Bewertet mit 5 Sternen

Wie schreibt man einen perfekten Roman?

Ein Buch, das von der ersten bis zur letzten Seite fesselt, das bis zum Schluss spannend bleibt, das gleichzeitig sozialkritischer Gesellschaftsroman und zarte Liebesgeschichte ist, garniert mit einem Hauch von Krimi?

Ein Werk voll von bitterer Satire und zugleich herzzerreißender Empathie?

Ein Buch bevölkert mit einem unerschöpflichen Vorrat an skurrilen Charakteren und liebeswerten Helden, mit tragischen Figuren und echten Bösewichten?

Einen Roman, der seine Leser fest an die Hand nimmt und zu den unterschiedlichsten Schauplätzen führt - solche die wirken, als seien sie der Vorhof zur Hölle und solche, die paradiesisch anmuten und dabei nie vergessen lässt, dass es alle diese Schauplätze auch wirklich gibt?

Ein Buch, dessen Sprache raffiniert und voller Wortwitz ist, das einen zum Lachen bringt und auch zum Weinen und das seine Sympathien nie verleugnet?

Mit Bleak House ist Charles Dickens dieser große Wurf gelungen.
Dickens verknüpft die Lebensgeschichte der jungen Esther mit seinem Bericht über den Gerichtsprozess Jarndyce gegen Jarndyce, einem absurden "Ungeheuer von Prozess", der sich Geld und Menschenleben verschlingend über Jahrzehnte hinzieht.

Nun könnte man denken, dass ein Roman, der die Jurisprudenz Englands im ausgehenden 19. Jahrhundert anprangert, für seine Leser schnell mühsam wird. Doch Dickens verschont uns mit langatmigen Details zum Gerichtswesen. Der genannte Prozess und das ihn hervorbringende System markieren zwar den Rahmen des Romans, aber sein wahres Leben verdankt er den vielen Einzelschicksalen, die mehr oder weniger intensiv mit ihm verknüpft sind und die die wahre Handlung bestimmen. Ach was, Handlung? Handlungen! Denn geschickt spinnt Dickens ein komplexes Netz aus Beziehungen, zu denen alle Akteure zueinander stehen. Aber keine Angst, Dickens lässt seine Leser dabei nie den Überblick verlieren. Jeder Handlungsfaden führt zu einem Ende und alle Fäden zusammen ergeben ein großes in sich stimmiges Muster.
Mit seinem Roman hält Dickens seinen Zeitgenossen einen schonungslosen Spiegel vor. Weit ist der Bogen, den er dabei spannt, denn breit ist die Kluft, die durch die Gesellschaft geht. Vom bettelarmen Gassenjungen bis zum edelsten Lord leuchtet Dickens alle Extreme aus und lässt keinen Zweifel daran entstehen, wen er für die sozialen Missstände seiner Zeit zur Verantwortung zieht: eine Oberschicht, die sich aus Furcht Einfluss einzubüßen gegen jede Reform und Neuerung sträubt und ein der Oberschicht nacheiferndes Bürgertum, das die Augen vor der sozialen Realität verschließt.
Das absurde Rechtssystem, über das Dickens sich mokiert, ist nur ein Auswuchs dieser überholten sinnfreien Strukturen, die künstlich am Leben erhalten werden, um einigen wenigen Schmarotzern auf Kosten einer großen Allgemeinheit ein Auskommen zu sichern.
Doch Dickens ist nicht nur Mahner. Dass es auch anders gehen kann, dafür stehen viele seiner positiven Figuren Pate. Durch sie und ihr Handeln stellt er dem kaltherzigen erstarrten System seiner Zeit menschliche Werte wie Nächstenliebe und Verantwortungsgefühl gegenüber. Und sind es auch nur einzelne Beispiele, die gleich einem Tropfen auf dem heißen Stein nur wenig verändern können, so deutet er bereits einen gesellschaftlicher Wandel an: eine neue auf Fortschritt und Unternehmertum begründete Oberschicht steht bereit, die politische Macht zu übernehmen.
Natürlich ist Dickens Roman gefärbt durch das Kolorit seiner Zeit und doch es ein Werk mit fraglos aktueller Botschaft:
"Menschenliebe mit den Fernglas" taugt nicht. Soziale Verantwortung ist immer ein Thema. Und soziale Verantwortung beginnt vor der Haustür.
Dickens Botschaft macht den Roman zeitlos. Seine geniale Erzählkunst macht ihn zum unsterblichen Klassiker.