Rezension

Wiedersehen nach vierzig Jahren

Die Frau auf der Treppe - Bernhard Schlink

Die Frau auf der Treppe
von Bernhard Schlink

Bewertet mit 4 Sternen

Er war sehr zufrieden mit sich. Seine Arbeit in Sidney war erledigt, der Unternehmenszusammenschluss war unter Dach und Fach, jetzt konnte sich der Rechtsanwalt und Seniorchef einer großen deutschen Kanzlei vor seinem Rückflug in einigen Tagen der Kultur widmen. Abends wollte indie Oper, doch zunächst besuchte er die Art Gallery. Und da hing es - das verschollene Bild des Malers Karl Schwind, das mittlerweile Millionen wert sein musste. Es zeigt Irene Gundlach, die Frau des Fabrikanten Gundlach, wie sie in Lebensgröße eine Treppe herunter steigt – nackt. Er war genau so verlegen wie damals vor 40 Jahren, als er in der Kanzlei die Auseinandersetzung zwischen Schwind und Gundlach klären sollte, von denen jeder Anspruch auf das Bild erhob. Seinerzeit schlug er sich auf die Seite von Irene, in die er sich sofort verliebt hatte, und half ihr, das Bild in ihren Besitz zu bringen. Doch dann waren Irene samt Bild verschwunden und bis jetzt nicht mehr aufgetaucht. Nun musste sie hier sein, hier in Australien. Er beginnt nachzuforschen – aber nicht nur er. Auch Schwind und Gundlach waren durch Zeitungsberichte auf die Leihgabe in der Art Gallery aufmerksam geworden und suchen Irene, um doch noch in den Besitz des Bildes zu gelangen …   

Der Autor Bernhard Schlink wurde 1944 in Bielefeld geboren, wuchs in Heidelberg auf, studierte in Heidelberg und Berlin Jura, promovierte 1975 in Heidelberg zum Dr. jur. und habilitierte sich in Freiburg/Brsg. zum Professor für Öffentliches Recht. Er lehrte an den Universitäten in Bonn, Frankfurt/Main und Berlin und war von 1987 bis 2006 Richter am Verfassungsgerichtshof. Seinen Erfolg als Schriftsteller hatte er ab 1987. Neben einigen Fachbüchern schrieb er zwölf Romane, für die er zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhielt. Heute lebt Schlink in New York und Berlin.

Zwei Figuren sind es, die diesen Roman dominieren. Da ist zunächst der Rechtsanwalt, der uns als namenloser Ich-Erzähler mit der Geschichte vertraut macht. Dabei schildert er das Geschehen mit einer sachlichen Nüchternheit, als hätte er keine Gefühle. Dass dem nicht so ist, zeigt sich zum Ende des Buches. Er macht eine starke Wandlung durch und entwickelt eine aufopfernde Fürsorge, wie er sie seiner verstorbenen Frau und seinen drei Kindern nie zeigen konnte. Auch Irene hat sich sehr verändert, wie man aus Rückblenden erfährt. Von der raffinierten Diebin und gesuchten Terroristin war sie die letzten Jahre sozial engagiert und in ihrer Umgebung als Wohltäterin beinahe verehrt. Nun ist sie sehr krank und hat nicht mehr lange zu leben. Zwischen den beiden entwickelt sich eine starke Verbundenheit und enge Vertrautheit. Gundlach und Schwind hingegen sind eher Statisten der Handlung, die nur darauf aus sind, Irene zu manipulieren und in den Besitz des Bildes zu kommen.

Ein großes Lob gebührt dem Autor, der es großartig versteht, die einzelnen Charaktere mit all ihren Stärken und Schwächen zu beschreiben, auch wenn sie dadurch nicht unbedingt sympathisch wirken. Der Schreibstil ist klar, präzise und schnörkellos, die Handlung gut durchdacht und nachvollziehbar. Eine leise Geschichte, die sich gut lesen lässt und  hin und wieder sehr berührt und nachdenklich stimmt.