Rezension

Willas Entscheidung

Launen der Zeit - Anne Tyler

Launen der Zeit
von Anne Tyler

Bewertet mit 3.5 Sternen

Wie normal ist ein scheinbar normales Leben? Willa Drake wächst in einer nach außen hin intakten amerikanischen Durchschnittsfamilie auf. Doch unter der Oberfläche brodelt es bereits in ihrer Kindheit - immer wieder verlässt die Mutter kurzzeitig Mann und Töchter. Nachdem Willa sich befreit hat, heiratet und Kinder kriegt, muss sie, als ihr Mann tödlich verunglückt, ihr Leben plötzlich ganz neu ordnen. Wieder verheiratet und mit längst erwachsenen Söhnen, erhält sie eines Tages einen überraschenden Anruf, und ehe sie sich’s versieht stellen eine neue Familie, spleenige Nachbarn und ein Hund namens Airplane ihr Leben gründlich auf den Kopf. In ihrem neusten Roman erzählt Anne Tyler mit Geist, Witz und Herz die Geschichte einer so stillen wie mutigen Frau, die sich selbst näherkommt und schließlich, aus einer impulsiven Entscheidung heraus, zu einem selbstbestimmenten Leben findet. (Kein & Aber-Verlagsseite)

1967 ist Willa elf Jahre alt; ihr Leben wird überschattet von der Mutter, die immer wieder für eine Zeitlang verschwindet, und dem Vater, der nichts entgegenzusetzen hat. Das Verhalten der Mutter, das man heute sicher depressiv nennen würde, wäre, nach Willas Gefühl, für sie und die jüngere Schwester erträglicher, wenn darüber gesprochen würde. So hat sie gelernt: Schweigen ist normal, Reden könnte gefährlich werden.

1977: Ausgerechnet Derek, der Schwarm aller Collegeschülerinnen, macht Willa einen Heiratsantrag. Ihn anzunehmen hieße für sie, ihre Zukunftsträume, Sprache und Literatur zu studieren, über Bord zu werfen. Hin- und hergerissen zwischen ihrer Schwärmerei und ihrem Wunsch nach Eigenständigkeit stellt sie Derek mit zwiespältigen Gefühlen ihren Eltern vor.

1997 wird zu einem von Willas Schicksalsjahren. Sie hat mit Derek zwei fast erwachsene Söhne, als er bei einem selbst verschuldeten Unfall umkommt. Doch auch nach seinem Tod bestimmt er sie immer noch.

2017 ist Willa mit Peter verheiratet, einer zweiten Ausgabe von Derek. Ihre Söhne sind ausgezogen, leben ihr eigenes Leben, lassen ihre Mutter meist außen vor. Willa lebt in einem ereignislosen, selbstgenügsamem Alltag ohne besondere Höhen und Tiefen, als sie den Anruf einer unbekannten Frau bekommt, ihre Schwiegertochter Denise sei angeschossen worden und habe niemanden, der sich um Tochter Cheryl kümmert. Willa reagiert sofort, auch wenn sie keine Schwiegertochter namens Denise hat.

 

11, 21, 41 und 61 Jahre. in diese Altersstufen stellt Tyler ihre Protagonistin Willa. Ihr Lebensprogramm lässt sich mit „Angepasstheit“ perfekt umschreiben. Als Kind bildet sie ihre Überlebensstrategie aus: Im Chaos der mutterlosen Zeiten und aus Angst vor der Unberechenbarkeit und den Launen der Mutter setzt sie alles daran, die eigenen Gefühle und Wünsche unter Verschluss zu halten, damit das zerbrechliche Gefüge der Familie nicht zerspringt, und um ihrem schwachen Vater nicht noch mehr zu belasten. Dieses Verhaltensmuster bestimmt sie auch gegenüber Derek und Peter. Nie wagt sie, die eigenen Wünsche und Vorstellungen durchzusetzen, sofern sie überhaupt welche entwickelt und nicht die Pläne ihres Mannes für die eigenen hält; Auseinandersetzungen scheut sie, und Nähe ist ihr fremd.

Endlich, mit über 60 Jahren, gerät sie in eine Situation, in der sie sich entscheiden muss, denn Ehemann Peter ist nicht einverstanden mit ihrer ausopferungsvollen und selbstständigen Arbeit bei und für Denise und Cheryl und der Freude, die sie mit ihrer neuen „Familie“ hat.

Frauen wie Willa kennt man schon von Tyler, und ebenso Handlungen, die sich im Umfeld einer Familie abspielen. Sie gliedert ihre Romane auch formal gern in  Jahreskapitel. Ein fesselnder Spannungsbogen, spektakuläre Themen oder schnelles Tempo gehören nicht zu Tylers Repertoire, statt dessen zeichnet sie beinahe liebevoll ein Umfeld für ihre Figuren, in dem sie lieben und hassen, kämpfen, siegen oder scheitern, geboren werden und gebären, alt werden und sterben –  kurz gesagt: leben. Tyler Figuren sind vor allem eines: echt. Und ihre Geschichten auch. Alltag eben.