Rezension

»Wir müssen versuchen, besser zu sein als die Welt.«

Ein anderes Land -

Ein anderes Land
von James Baldwin

Bewertet mit 5 Sternen

Baldwins Sprache ist ein Gedicht, ich bin immer aufs Neue begeistert von seiner eleganten Sprachgewalt. Er malt Bilder mit seinen Worten, baut scheinbar mühelos Atmosphäre auf; in jeder Passage schwingt eine Vielzahl von Bedeutungsmöglichkeiten und Themen mit. Manchmal hörst du geradezu den Jazz, der aus den diversen Clubs auf die Straßen hallt.

Dennoch entpuppt sich auch dieser Roman wieder als unbequeme Lektüre: Jazz-Schlagzeuger Rufus ist ein Mann, der unter dem Druck einer Gesellschaft, in der er als Schwarzer stets und überall auf der Hut sein muss, zerbricht. Er wird bedroht, geschmäht und marginalisiert – leider ist das auch sechzig Jahre nach Erscheinen der Originalausgabe immer noch brandaktuell. So weit fühlt und leidet die:r Leser:in noch mit ihm mit, aber seine Wut, seine Angst und sein Hass entladen sich darin, dass er seine weiße Freundin Leona schlägt und demütigt und… Ja, vergewaltigt. Bis er nicht mehr damit leben kann, was aus ihm geworden ist.

Baldwin spürt nach Rufus’ Selbstmord dem Leben seiner Schwester und seiner weißen Freunde nach, ohne dem sinnlosen Tod seines Protagonisten einen Sinn aufzuzwingen. Niemand wird dadurch geläutert oder erleuchtet. Niemand ist weniger gefangen in seinen persönlichen -Ismen.

Ein wiederkehrendes Thema bei Baldwin:

Unterdrückung und Gewalt gebären eine toxische Gesellschaft, die emotional verkrüppelte Menschen hervorbringt, sie von innen zerfrisst wie Krebs. Selbstverachtung wird zu Verachtung wird zu Gewalt. Baldwins Protagonisten sind der Inbegriff dieser fatalen Spirale und machen es den Leser:innen daher durchaus schwer. Sie quälen sich selbst, sie quälen andere, sie verzweifeln an ihrem eigenen pervertierten Selbst. Zwar kommt immer wieder die Liebe ins Spiel, in all ihren Facetten, doch sie bringt öfter das Unheil als das Heil – Leid, nicht Liebe, ist das einende Element der verschiedenen Episoden.

Als moderne Leserin muss ich mich bei Baldwin insbesondere gegen die Homophobie und Frauenfeindlichkeit wappnen, die in fast jedem seiner Romane präsent ist. Aber sind diese nicht ein logischer Schluss? Seine Helden entladen ihre blinde Wut gegenüber den Menschen in ihrem Leben, die noch schwächer, noch machtloser sind als sie selbst.

Das wird so eindringlich, so authentisch und verstörend beschrieben, dass es schwer sein kann, da noch zu trennen zwischen Autor und Werk. Aber in meinen Augen verdient es Baldwin und verdienen es auch seine Bücher, dass Leser:innen sich nicht verstricken in moralische Empörung und fehlgeleitete Verurteilung. Baldwin zeigt die Abgründe der Gesellschaft, doch er hat sie nicht verursacht, sondern gilt zu Recht als Ikone der Gleichberechtigung – don’t shoot the messenger!

Seine Übersetzerin sagt indes über ihn: »Baldwin wollte keine Ikone sein, er wollte Zeugnis ablegen.« Und das tut er.

Zugegeben, für mich ist „Ein anderes Land“ womöglich der schwächste von Baldwins Romanen, aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Das kleinste Stückchen Gold ist immer noch Gold. Ja, großartige Szenen und komplexe Charaktere werden ein wenig geschmälert durch Längen in der Handlung. Ja, das Buch ist deutlich dialoglastiger, als ich es ansonsten von Baldwin kenne, was manchen Szenen stilistisch einen eher altbackenen Anstrich verleiht. Dennoch ist auch ein Baldwin mit Abstrichen immer noch großartig und ein unschätzbares, einmaliges Bild seiner Zeit; der Roman ist das Lesen auf jeden Fall mehr als wert!

Dazu kommt noch, dass die Neuübersetzung von Miriam Mandelkow nach meinem Empfinden den Ton des Originals wesentlich besser trifft als die Übersetzung, die in den späten 70ern unter dem Titel „Eine andere Welt“ erschien. Daher lohnt sie sich auch für Leser:innen, die diese erste Übersetzung bereits gelesen haben.

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Blog:
https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-james-baldwin-ein-anderes-land