Rezension

"Wir sind in jeder Stunde tausend verschiedene Menschen."

Memory Wall - Anthony Doerr

Memory Wall
von Anthony Doerr

Bewertet mit 5 Sternen

"Alma steht barfuß und ohne Perücke mit einer Taschenlampe im oberen Schlafzimmer. [...] Vor einem Moment noch, da ist sich Alma sicher, hat sie etwas Wichtiges getan. Etwas, bei dem es um Leben und Tod ging. Aber sie kann sich nicht erinnern, was es war."

In Anthony Doerrs Novelle "Memory Wall" lernen wir die Geschichte von Alma kennen. Alma hat Demenz. Man kann es auch gar nicht schön reden, doch es ist trotz der fortschreitenden medizinischen Möglichkeiten nicht aufzuhalten. Ärzte können aufgrund von 4 Ports, die in Almas Kopf verankert sind, Erinnerungen 'ernten', auf Kassetten speichern. So können diese Fragmente oder Puzzleteile immer mal wieder abgespielt und zurück ins Gedächtnis gerufen werden. Früher hatte Alma täglich an der Wand gearbeitet. Eine Wand mit dutzenden von Erinnerungen in Form von Kassetten, Bildern und gekritzelten Notizen. In dessen Innerstes ein Bild ihres Mannes Harold. Eine Herzattacke riss ihn während der Suche nach Fossilien aus ihrem Leben. Und so ist Alma ganz auf sich allein gestellt. Naja, nicht ganz, ihr Haushälter Pheko, ein Einbrecher und Luvo leisten ihr hin und wieder Gesellschaft. Doch als sie in ein Heim abgeschoben und das Haus verkauft werden soll, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und die Suche nach der einen entscheidenden Erinnerung...

"Jede Kassette an Almas Wand wird zu einem kleinen Feuer in der Dunkelheit. Luvo bewegt sich zwischen ihnen hin und her und erkundet nach und nach das Labyrinth ihrer Geschichte."

Dieses Buch hat mich auf eine sehr tiefgründige Art und Weise bewegt. Es sind die Bilder, die Anthony Doerr (und der Übersetzer Werner Löcher-Lawrence) hier hervorruft. Die Vergänglichkeit und das Zurücklassen von Erinnerungen und Andenken, die für andere eher Krempel darstellen und ohne die zugehörige Person nutzlos erscheinen. Es ist das Bild, dass wir ohne Erinnerung eigentlich nichts wären, als eine nutzlose Hülle unserer selbst. Schon allein das im Einstieg abgedruckte Zitat von Luis Bunuel schließt die Klammer um dieses Buch und öffnet die Gedankenwelt. Der Spiegel spricht von einem Zauber, den das obsessive Erzählen erzeugt - für mich ist es mehr als das. Eine mitreißend, traurig, schöne Geschichte sowie ein Gedankenanstoß der Endlichkeit und das Erkennen des ungeahnten Glücks. 

"Nichts bleibt [...] Dass etwas versteinert, ist ein Wunder. Die Chancen stehen eins zu fünfzig Millionen. Der Rest von uns? Wir verschwinden im Gras, in Käfern, in Würmern. In Lichtstreifen."