Rezension

Wir wollen, was ihr habt

Kapital - John Lanchester

Kapital
von John Lanchester

‘Kapital’ – da haut schonmal der Titel richtig rein. Denn immerhin hat diesen Titel schonmal ein Buch gehabt. Erschienen im Jahre 1867, geschrieben von Karl Marx.
Ich kann nicht behaupten, dass ich dieses Werk jemals gelesen hätte, aber die Kurzfassung bei Wikipedia verrät mir, dass John Lanchester sein Buch sicher nicht zufällig so genannt hat.
Und mit 682 Seiten und Ziegelsteinformat ist auch der physische Teil nicht zu unterschätzen. Zumindest für Analogleser wie mich.

Ein Porträt der Gesellschaft entwirft John Lanchester hier und dass es sich um die britische oder genauer Londoner Gesellschaft handelt, spielt eigentlich keine so große Rolle. Die Personen kann man leicht auch in andere westliche Länder übertragen.
Da gibt es zunächst Roger Yount, der in einer großen Investmentbank arbeitet. Er ist ein Banker alter Schule, der zwar eine Abteilung leitet, allerdings irgendwie schon den Überblick verloren hat. Von den mathematischen Zusammenhängen und der ganze IT hat er keinen richtigen Schimmer. Die Arbeit lässt er lieber die jungen Emporkömmlinge, wie seinen Assistenten Mark machen.
Zu Roger gehört seine Frau Arabella, die eigentlich nur eine Sache gut kann – Geld ausgeben. Da fangen die Probleme auch direkt an, denn Roger rechnete mit einer Bonuszahlung von 1 Million Pfund, es  muss immerhin der Kredit für ihr Stadthaus abbezahlt werden, für das kleine Ferienhaus auf dem Lande und das tägliche Kleinklein gibt es natürlich auch nicht geschenkt.

Das neue Kindermädchen der beiden heißt Matya und kommt aus Ungarn. Eigentlich will Matya möglichst schnell einen reichen Mann zum heiraten kennenlernen. Stattdessen trifft sie den nicht ganz so reichen Polen Zbginiew, der nach England gekommen ist, um möglichst viel Geld für sein ‘wirkliches’ Leben in Polen zu verdienen. Das tut er als Handwerker für alle Fälle, oft zusammen mit seinem Kindheitsfreund Piotr.
Zur Zeit ist Bogdan (so nennen ihn die meisten seiner Arbeitgeber) viel in der Pepys Road aktiv, denn er hat sich einen guten Ruf erarbeitet, allein durch ein eigentlich selbstverständliches Maß an Service, welches der englischen Handwerksbranche eher fremd ist.
So sorgt er bei den Younts für eine farbliche Neugestaltung des Badezimmers (ich entschuldige mich hier schonmal, wenn es vielleicht doch das Schlafzimmer o.Ä. war); bei den Leatherbys wird das ganze Haus rennoviert, denn da ist kürzlich die Großmutter gestorben.

Da ich jetzt immer noch bei der Personenriege des Buches bin, mal ein bisschen kürzer zusammen gefasst: es gibt dann noch den Enkel von Mrs Leatherby, der eigentlich Graham heißt, sich aber Smitty nennt, denn er ist ein gefeierter Künstler, dessen größtes Kunstwerk eigentlich seine Anonymität ist (wer da nich an Banksy denkt, ist selber Schuld [;-)] )
Außerdem patroliert Quentina als Politesse durch die Straßen, ihrem Arbeitgeber ist sie aber nur als Kwama Lyons bekannt, denn eigentlich ist sie eine abgelehnte Asylbewerberin. Ebenso aus Afrika kommen Freddy und sein Vater Patrick. Allerdings nicht auf der Flucht vor politischer Verfolgung, sondern weil Freddy ein begnadetes Fussballgenie ist.
Und am Ende der Pepys Road wohnen noch die Kamals, eine Familie mit pakistanischen Wurzeln, die hier einen Zeitungskiosk betreiben.

Jetzt fehlen immer noch einige Personen, aber das sind immerhin schonmal die wichtigten.
Die Handlung konzentriert sich im Großen und Ganzen in und um die Pepys Road, wo fast alle Figuren wohnen oder arbeiten. Eines Tages beginnt jemand Fotos der Häuser an die Besitzer zu schicken, mit dem immergleichen Spruch WIR WOLLEN WAS IHR HABT auf der Rückseite. Zuerst wird das ganze als Werbeaktion abgetan, aber die Kontinuität des Ganzen ruft dann doch irgendwann Bedenken hervor und die Polizei wird eingeschaltet.
Die Aktion läuft zwar permanent im Hintergrund, aber eigentlich geht es eher um das mehr oder weniger alltägliche Leben der vorgestellten Personen, immer als Repräsentant einer bestimmten Klasse (um hier mal wieder zum alten Marx zurück zu kommen) oder eben Gesellschaftsschicht, Milieu.

Jeder versucht auf seine Weise und seinen Idealen folgend das persönliche Glück zu finden, jeder hat seine Ups und Downs und jeder kommt an ein anderes Ziel. Für die einen gibt es ein Happy End, andere sind eher wortwörtlich am Ende.

Wer sich nicht vor einem großen Personenensemble scheut, der bekommt hier ein erstklassiges, tiefschichtiges Porträt unserer Gesellschaft. Großartig erzählt und fesselnd von Seite zu Seite. Außerdem mal was Anderes als der ewige Ich-Erzähler, der ja immer noch die deutsche Literatur dominiert.