Rezension

Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr

Das Floß der Medusa
von Franzobel

Zweihundert Jahre ist es her: 1816 brach eine kleine Flotte von vier Schiffen von Frankreich auf nach Afrika. Das Flaggschiff, die Medusa, bringt den französischen Gouverneur in den Senegal. Doch die Reise steht unter einem schlechten Stern: Der Kapitän ist völlig inkompetent, er überlässt das Kommando seinem Jugendfreund, der behauptet, er habe seemännische Erfahrung, und die Warnungen der Offiziere werden in den Wind geschlagen. So setzt die Medusa auf einer der berüchtigten Sandbänke auf. Die sechs Rettungsboote reichen nicht für die über 400 Menschen, und so wird in aller Eile aus einigen Wrackteilen ein Floß gezimmert, auf dem sich 147 Personen drängen. Die anderen Boote sollen es schleppen, doch das gelingt nicht, und so werden die Leinen gekappt und das Floß seinem Schicksal überlassen. Ohne Ruder, mit einem Sack Zwieback, einem Fass Wasser und drei Fässern Wein treiben die Schiffbrüchigen auf dem Meer. Verzweiflung treibt einige zum Sprung ins Wasser, und unter den Übrigen beginnt ein Kampf ums Überleben. Zunächst werden die Toten ins Meer geworfen, doch dann beginnen die Verhungernden, die Leichen zu essen...

Zwei Überlebende haben Tatsachenberichte niedergeschrieben, die von den zuständigen Behörden totgeschwiegen wurden. Als die Öffentlichkeit Kenntnis von dem Drama erhielt, malte der Maler Géricault ein monumentales Gemälde mit dem Titel "Das Floß der Medusa". Ein Ausschnitt hieraus wurde für das Titelbild des Romans von Franzobel verwendet; Autorenname und Titel wirken wie mit Nägeln eingekratzt. "Roman nach einer wahren Begebenheit" nennt der Autor sein Werk. Er schreibt aber nicht im Stil eines historischen Romans, sondern er lässt einen Erzähler auftreten, der aus unserer Zeit stammt und dem Leser häufig Parallen zur heutigen Situation unter die Nase reibt. Das ist eben nicht Schnee von gestern - das Verhalten von Menschen in einer Extremsituation ist überzeitlich und universell. "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral", sagt Brecht, und wenn es kein Brot, kein Fressen mehr gibt, ist auch keine Moral zu finden. Im Kampf ums Überleben fallen die Schranken, die die Zivilisation dem Menschen auferlegt. Religion, Zivilisation, Kultur, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Humanismus und Idealismus entpuppen sich als leere Worte, die in der Extremsituation keine Bedeutung mehr haben. Diese Situation erinnert an "Lord of the Flies / Herr der Fliegen" von William Golding, das zu einem Kultbuch wurde. Hat das Buch von Franzobel ähnliche Kraft?

Von den Kritikern wird es hoch gelobt, und es hat den Sprung zunächst auf die Longlist, dann auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017 geschafft. (Zum Zeitpunkt meiner Rezension ist der Sieger noch nicht nominiert.) Ein kraftvolles Drama ist es, mit historischem Hintergrund - aktuelle Bezüge wie die Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer, legitimierte, aber unfähige Führer oder der Verlust von Idealen in Extremsituationen liegen auf der Hand. Franzobel formuliert präzise, er charakterisiert seine Personen individuell, so dass man sie sich gut vorstellen kann. Mit Viktor hat eine Figur geschaffen, der die brutale Hierarchie auf dem Schiff so fremd ist wie dem Leser und mit der er sich in diese Welt hineinwagen kann. Doch Franzobel bleibt nicht in der beschriebenen Welt vor zweihundert Jahren; sein Erzähler bringt immer wieder die heutige Welt hinein - so vergleicht er etwa die Schiffsoffiziere mit Filmschauspielern. Diese Gegenwartsbezüge irritieren; sie erinnern mich an den Verfremdungseffekt bei Brecht. Das reißt den Leser aus der Identifikation und zwingt zu Distanz und Reflektion. Oft ist das witzig und unterhaltsam, manchmal habe ich es auch als aufgesetzt und künstlich empfunden. Aber auch wenn es mir nicht unbedingt gefällt, muss ich doch zugeben, dass dieser Stil originell ist und der Sache gerecht wird. Daher: Eine Leseempfehlung von mir.

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 06. Oktober 2017 um 09:25

Eine sehr gute, reflektierte Rezi, danke. Wegen der Grausamkeiten und Ekelelemente zögere ich dennoch bzw. zweifle, ob ich es lesen will.

katzenminze kommentierte am 12. Oktober 2017 um 18:17

Ich fand es tatsächlich weniger schlimm als befürchtet, Steve. Es gibt diverse Thriller, die schlimmer sind. Aber die Ekelgrenze liegt ja bei jedem woanders. ;)

Steve Kaminski kommentierte am 13. Oktober 2017 um 09:24

Danke für die Info, Minzi. Ich werde in einer Buchhandlung mal reingucken. Ich bin bei solchen Dingen auch zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich empfindlich.

wandagreen kommentierte am 12. Oktober 2017 um 18:21

du hast keine punkte vergeben.   

katzenminze kommentierte am 12. Oktober 2017 um 20:58

Die Kritik mit dem "herausgerissen werden" durch die EInwürfe oder die Wortwahl des Erzählers habe ich an anderer Stelle auch schon gehört. Mich hat's zum Glück nicht gestört. Das Brecht Zitat passt toll! ^.^

yvy kommentierte am 15. Oktober 2017 um 16:59

Sehr gute und nachvollziehbare Rezi. Mir gefiel der Stil zum Glück sehr.