Rezension

Wo ist Oscar?

Das Nest -

Das Nest
von Katrine Engberg

Bewertet mit 4 Sternen

Nicht der beste Band der Reihe, trotzdem lesenswert. Engberg zeichnet hier ein resignatives Gesellschaftsbild, Melancholie auf vielen Ebenen

Es ist ein sonniger Tag im April, als der 15-jährige Oscar verschwindet. Zunächst denkt man, er sei von zu Hause abgehauen. Doch es gibt Anzeichen, die auf Schlimmeres hindeuten. Als die Leiche eines jungen Mannes in einer Müllverbrennungsanlage entdeckt wird, beginnen Anette Werner und Jeppe Kørner mit ihren Ermittlungen. Sie betreten unterirdische Gänge und verlassene Inseln und stoßen dabei auf einsame Seelen und befremdliche Familiengeheimnisse. (Klappentext)

 

Erster Satz: „Am Montagmorgen erwachte Michael mit Halsschmerzen.“ (S. 7)

 

Die Suche nach dem 15jährigen Oscar erweist sich als schwierig, weil es niemanden zu geben scheint, der den Ermittlern entscheidende Hinweise geben kann. Die Spurenlage ist unklar: abgehauen oder entführt? Der Leichenfund in einer Müllverbrennungsanlage lässt die Polizei schließlich alle Kräfte mobilisieren, doch Sackgassen gibt es reichlich. Der vierte Band um die Ermittler Jeppe Kørner und Anette Werner hat es also in sich...

 

"Eine Wange der Leiche war zu erkennen. Sie war von Staub bedeckt und glich einer Statue, glatt und unbekümmert und sehr, sehr tot." (S. 140)

 

Erzählt wird der Roman – selbst der Diogenes Verlag nennt ihn weder Krimi noch Thriller – sehr langsam, verschachtelt, in ständigen Perspektivwechseln und durchzogen von leiser, vielschichtiger Melancholie. Es war schön, den bekannten Figuren wiederzubegegnen, doch würde ich nicht durch die vorherigen Bände etliche der beteiligten Charaktere bereits kennen, hätte mich das imposante Personenkarussell vermutlich wohl überfordert. Die Familie des verschwundenen Oscar, dessen Lehrer:innen, Mitarbeiter:innen der Mülldeponie, Kolleg:innen der Polizei, Freunde und Familien der Ermittler:innen und noch eine weitere Vielzahl an Beteiligten mehr – da heißt es zügig lesen, weil man sonst eindeutig den Überblick verlieren kann… Insgesamt lässt sich der Text aber sehr flüssig lesen, und die ständig wechselnden Perspektiven bei insgesamt jeweils kurzen Abschnitten erhöhen den Sog noch.

In diesem Roman sind die am Fall und den dazugehörigen Umständen beteiligten Erwachsenen durchweg von einem gnadenlosen Egoismus befallen und nahezu jeder verhält sich merkwürdig und hat etwas zu verheimlichen, alle anderen einschließlich der Ermittler:innen leiden an einer Sinn- und/oder Lebenskrise. Etwas sehr viel, aber gerade dadurch spitzt sich alles nicht vorschnell auf eine:n Täter:in zu. Man kann sich schon die Frage stellen, in was für einer Welt Kinder und Jugendliche aufwachsen. Zumindest die hier auftretenden jungen Charaktere müssen jedenfalls schon längst jede Illusion verloren haben bzw. geraten nur zu leicht selbst in eine Schieflage. Ein sehr resignatives Gesellschaftsbild, das Katrine Engberg da zeichnet.

Leider konnte mich diesmal die Ermittlungsarbeit selbst nicht so recht überzeugen. Sie lief doch sehr schleppend dahin, wichtige Fragen, die sich nahezu aufdrängten, wurden mehrfach nicht gestellt bzw. Befragungen gleich ganz weggelassen, und hätte es die alternde Krimiautorin Esther de Laurenti nicht gegeben, die bislang bereits bei allen vorherigen Kriminalfällen entscheidende Fakten beitragen konnte, wäre diesmal wohl einiges im Dunkeln geblieben. 

 

"Alle Beziehungen haben ihre Zeit. Und manchmal geht diese Zeit vor der Liebe zu Ende. So tut es wirklich weh." (S. 271) 

 

Das Privatleben der Ermittler Jeppe Kørner und Anette Werner nimmt hier für mein Empfinden doch (zu) viel Raum ein, da erschienen die Ermittlungen zeitweise zumindest eher zweitrangig. Jeppe steckt in einer Beziehungskrise – der Alltag mit Kollegin und alleinerziehender Mutter Sara gestaltet sich doch eher schwierig, Entscheidungen stehen an. Und Anette fühlt sich in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter einer kleinen Tochter nach wie vor unsicher, und plötzlich stellt sie alles in Frage, als sie im Rahmen der Ermittlungen auf einen Mann trifft, der sie magisch anzieht. 

Und doch habe ich auch diesen vierten Band der dänischen Reihe um Jeppe Kørner und Anette Werner wieder gerne gelesen. Katrine Engberg kann eben auch sehr eindringlich schreiben, so dass Mitfühlen (Hinterbliebene eines Opfers) und Mitekeln (Fundort und Pathologie) möglich sind. Auch das eigene Spekulieren beim Lesen kommt nicht zu kurz: was hängt wie zusammen, wer könnte welches Motiv haben und was verheimlicht wer? Andeutungen, Plot Twists und Sackgassen führen zusätzlich zu Verwirrungen. Reichlich Stoff zum Nachdenken also, was die Neugierde wach hält. Undurchsichtige Charaktere gibt es hier jedenfalls reichlich. Bis kurz vor dem Ende hatte ich keine Ahnung, worum es hier überhaupt geht. Und das fand ich gelungen. (Spoiler: mit dem Coverbild von Diogenes hat der komplette Fall überhaupt nichts zu tun, sehr merkwürdig…).

Trotz einiger Ungereimtheiten und offenen Fragen am Ende runde ich die 3,5 Sterne, die ich hier eigentlich vergeben würde, gerne auf 4 Sterne auf. Da der Verlag das Buch als „Roman“ bezeichnet und nicht als Krimi oder Thriller, kann ich die diesmal etwas zu kurz kommende Ermittlungsarbeit verzeihen. Ich warte jedenfalls schon gespannt auf Band fünf!

 

 © Parden