Rezension

Wortgewalt, die tief ins Herz trifft

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
von Lilly Lindner

Bewertet mit 5 Sternen

Der Inhalt... Was soll man über dieses Buch sagen, was KANN man überhaupt sagen, ohne etwas vorwegzunehmen? "Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" ist ein Buch in Briefform und es dreht sich um die Schwestern April und Phoebe. April befindet sich in einer Klinik und kämpft dort gegen ihre Magersucht. Aber kämpft sie überhaupt? Oder ist es nur das was ihre Familie sich von dem Aufenthalt erhofft? Weiß ihre kleine Schwester Phoebe alles oder enthalten die Eltern ihr Informationen vor? 

Phoebe schreibt Briefe, allesamt an April, in kurzen Abständen und mal in längeren. Doch sie erhält keine Antwort von April und besuchen kann sie sie auch nicht. So stellt Phoebe Fragen, die unbeantwortet zwischen den Zeilen verpuffen. Auf die sie sich selbst Antworten geben muss, Antworten, die hin- und hergerissen sind zwischen Hoffnung und Verzweiflung. 
Auch der Leser schwebt zwischen diese beiden Gegensätzen und hofft, dass alles irgendwie am Ende doch noch gut wird.

Lilly Lindner sagte über dieses Buch sie selbst sei April und Phoebe - und das merkt man. Sie steckt so viel Herzblut, so viel Verzweiflung und Angst in jede Zeile, dass man einfach nicht anders kann als sich zu fragen, wie viel von diesem Buch autobiographisch ist. Und es ist nicht schwer sich diese Frage zu beantworten, sie ist nur ein paar Klicks weit entfernt und auch das ist eigentlich überflüssig. 

Meine schlechten Tage sind unregelmäßig. Manchmal habe ich zwei hintereinander und manchmal habe ich eine Woche lang keinen einzigen. Aber seit du nicht mehr hier bist, sind auch die guten Tage kaputt. - Seite 51

Dieses Buch tut weh. Denn es trifft mitten ins Herz, geht unter die Haut und krallt sich dort fest. Man leidet mit Phoebe, hofft dass April bald zurückkommt und möchte die Eltern am liebsten durchschütteln. 
Die negative Entwicklung, die Phoebe im Laufe der Zeit durchmacht, ist wirklich erschütternd. Und sie ist so nah an der Realität, dass man ein ganz großes Bedürfnis danach hat, sie an die Hand zu nehmen und zu sagen "alles wird gut, auch wenn du es jetzt noch nicht glaubst". Gleichzeitig fragt man sich aber "Wird wirklich alles gut?". Ob das so ist müsst ihr natürlich selbst rausfinden.  

"Wozu gibt es Kontext, wenn ihn keiner versteht." - Seite 303 

Die Sprache in "Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" spielt eine unheimlich große Rolle. Es sind so viele kleine Wortspiele eingebaut und jeder Satz ist auf seine ganz eigene Art etwas ganz besonderes. Die Worte an sich sprechen eine ganz eigene Sprache, tanzen durch die Seiten und Lilly Lindner fängt sie ein. Das ist wirklich ein großes Talent und ich bin beeindruckt von der Leichtigkeit, mit der sie dieses Kunststück vollführt. Auch in Interviews und in der Lovelybooks-Leserunde ist mir das sehr positiv aufgefallen. 

Schwestern müssen schließlich zusammenhalten, weil man zusammen viel mehr halten kann als alleine. - Seite 17

Dieses Buch ist, wie schon erwähnt, mit Sicherheit zu einem großen Teil autobiographisch. Wie wohl jedes Buch von Lilly Lindner ein Stückchen ihres Wesens beeinhaltet... Ich hab es sehr gerne gelesen und mit April und vor allem mit Phoebe mitgelitten und gehofft. Gäbe es eine Fortsetzung, wie etwa ein Rückblick einige Jahre später, dann würde ich diese sofort lesen. Das halte ich aber leider für ausgeschlossen.

Ich vergebe sehr gern 5 von 5 Sternen und lese mich jetzt durch ihre anderen Werke. Auf jeden Fall auch etwas für Fans von Antonia Michaelis!