Rezension

Wunderbar altmodischer Krimi mit einem charmanten Protagonisten

Der Schatten des Todes - James Runcie

Der Schatten des Todes
von James Runcie

Bewertet mit 5 Sternen

Ein liebenswerter Kleriker auf Mörderjagd

Dieser neue aus sechs Storys bestehende Roman des britischen Schriftstellers James Runcie hat so viel Charme, das man sich ihm nicht entziehen kann. Obwohl es sich hier in erster Linie um einen Kriminalroman handelt, der im literarischen Subgenre Cozy Mystery angesiedelt ist, gelingt es Runcie scheinbar mühelos, britisches Lokalkolorit inklusive des unverwechselbaren britischen Humors und gut dosierte Spannung mit Poesie, Moral, Ethik und Glauben zu verknüpfen. Und dies liegt in erster Linie an seinem außergewöhnlichen Protagonisten, Canon Sidney Chambers, ein junger Landpfarrer, der sich im Grantchester (Grafschaft Cambridgeshire) der 50er Jahre nicht nur um das Wohl seiner Schäfchen kümmert, sondern sich mehr oder weniger freiwillig auch als Ermittler betätigt. Wem jetzt der gute alte Father Brown in den Sinn kommt, liegt falsch, denn Chambers ist keine Neuauflage des pfiffigen, aber ein wenig altbackenen Vorgängers. Er ist 32, attraktiv und elegant, liebt Bier, Jazz, Cricket und Literatur. Vor allem aber liebt er – im Geheimen – seine langjährige Freundin, die Kunsthistorikerin und Juniorkuratorin Amanda Kendall, ein glamouröses Society Girl, für die eine Beziehung, geschweige denn Ehe (in der anglikanischen Kirche dürfen Pfarrer heiraten), mit einem bodenständigen Geistlichen eigentlich nicht in Frage kommt. Doch trotz ihrer wechselnden Freunde und der schließlich sogar anstehenden Verlobung zieht es Amanda immer wieder zu Sidney, der Sicherheit und Stabilität in ihr unstetes Leben bringt.

Ein mysteriöser Selbstmord

Und als wäre das alles für einen Landpfarrer nicht schon aufregend genug, bittet ihn die geheimnisvolle, extravagante Pamela Morton gleich in der ersten Geschichte Der Schatten des Todes, den mysteriösen Selbstmord ihres Geliebten, den renommierten Rechtsanwalt Stephen Staunton, zu untersuchen. Obwohl Chambers in keiner Weise detektivische Ambitionen hat, nimmt er sich des Falls an, und ehe er sich versieht, erweist sich der vermeintliche Suizid als heimtückisch geplanter Mord. Doch da dies für ihn eine Nummer zu groß ist, zieht er seinen besten Freund, Inspector Geordie Keating, zu Rate, der immer ein wenig schlecht gelaunt, aber ansonsten eine Seele von Mensch ist. Er schätzt Sidneys einzigartige Gabe, seinen Mitmenschen in die Seele zu schauen und ihnen mit seiner liebenswert chevaleresken Art tief verborgene Geheimnisse zu entlocken, die sie ihm als Inspector niemals offenbaren würden. Schließlich gelingt es den beiden Freunden tatsächlich, den Fall zu lösen, und sie stellen fest, dass sie ein wirklich gutes Ermittlerteam sind.

Ein geheimnisvoller Juwelenraub

Viel Zeit, um sich wieder seiner Gemeinde zu widmen, bleibt Chambers nicht, denn sein zweiter Fall in der Geschichte Eine Frage des Vertrauens verlangt seine ganze Aufmerksamkeit. Auf der Silvesterparty seines Freundes Nigel Thompson, ein aufstrebender konservativer Politiker, bei der neben Sidneys Schwester Jennifer und ihrem neuen Freund Johnny Johnson auch seine Freundin Amanda und ihr Verlobter Guy Hopkins anwesend sind, wird der luxuriöse Verlobungsring, den Guy Amanda geschenkt hat, gestohlen. Sofort fällt der Verdacht auf Jennifers Freund Johnny, Enfant Terrible und Sohn eines berüchtigten Juwelendiebs, doch für Chambers ist diese Lösung viel zu einfach. Obwohl er eigentlich primär damit beschäftigt ist, sich einzureden, dass ihm Amandas Verlobung nichts ausmacht, ermittelt er mit Keating auch in diesem Fall und kann schließlich den Täter dank seiner guten Beobachtungs- und Kombinationsgabe entlarven.

Ein moralisches Dilemma

In der dritten Geschichte Vor allem – schade niemandem wendet sich Inspector Keating mit einem Fall an Chambers, der ihm einfach keine Ruhe lässt. Er glaubt nicht, dass die alte Mrs. Livingston, die von ihrer Tochter Isabel und ihrem Freund, dem Arzt Michael Robinson, gepflegt wurde, eines natürlichen Todes gestorben ist. Chambers vertraut auf den untrüglichen Instinkt seines Freundes und nimmt sich der Sache an, die ihn jedoch in ein moralisches Dilemma stürzt und ihm einmal mehr aufzeigt, dass das Leben kein schwarz-weiß Mosaik ist.

Mord im Jazzclub

In Geschichte Nr. 4 Alles hat seine Zeit taucht Chambers ein in die Welt des Jazz, die ihn magisch anzieht. Vor dem Nachtclub von Johnny Johnson, dem Freund von Sidneys Schwester Jennifer, wird Johnnys Schwester Claudette erdrosselt aufgefunden. Sidney und Geordie, die sich zu dem Zeitpunkt auch im Club befinden, da sie von Johnny zu einem Auftritt der berühmten Jazzsängerin Gloria Dee eingeladen wurden, stellen Nachforschungen an und stoßen bald auf dunkle Geheimnisse, die nur ein Motiv des Täters zulassen: Rache.

Ein brisanter Kunstfälscherskandal

In Story Nr. 5, Der verschwundene Holbein, wird Sidneys Freundin Amanda von Lord Teversham beauftragt, ein Gemälde zu begutachten, das von einem qualifizierten Restaurator aufgearbeitet und als Leihgabe zur Verfügung gestellt werden soll. Diese Routineaufgabe für Amanda entwickelt sich jedoch zu einem brisanten Kunstfälscherskandal, bei dem sie auf eigene Faust ermittelt und in Lebensgefahr gerät, denn sie unterschätzt den Täter, der nicht davor zurückschreckt, unliebsame Mitwisser zu beseitigen. Sidney ist außer sich vor Sorge und geht jedes Risiko ein, um Amanda zu retten…

Mord im Theater

In der letzten Geschichte Ehrenwerte Männer hat sich Sidney widerwillig breitschlagen lassen, eine kleine Rolle im Shakespeare-Drama Julius Caesar zu übernehmen, das von der Amateur-Theatertruppe der Gemeinde aufgeführt wird. Doch die Aufführung endet blutig: Der Hauptdarsteller bricht tödlich verwundet zusammen – von einem echten Dolch. Sidney ist geschockt und setzt gemeinsam mit Inspector Keating alles daran, den Killer zu stellen, der aus den eigenen Reihen zu kommen scheint…

Ein herrlich altmodischer Roman mit einem unkonventionellen Protagonisten

Wie gerne habe ich diesen herrlich altmodischen Roman gelesen! Ganz seinem Genre gemäß entfaltet er sich trotz der diversen Kriminalfälle bedächtig und transferiert eine ganz eigene angenehm ruhevolle Atmosphäre, ohne auch nur annähernd einschläfernd zu sein. Runcies Protagonist Sidney Chambers ist aber natürlich auch kein Kleriker im herkömmlichen Sinne: Er ist charmant, aber kein Charmeur – er ist moralisch, aber kein Moralapostel. Seine Fähigkeit zuzuhören, sein guter Humor und seine Galanterie (nicht zu vergessen seine Attraktivität und Eleganz) machen ihn zu einem nahezu perfekten, wenn auch unkonventionellen Exemplar eines Pfarrers. Doch beinahe unbemerkt durchbricht Runcie dieses Trugbild der augenscheinlichen Perfektion seines Protagonisten immer wieder und zeigt uns den Menschen Sidney Chambers außerhalb seiner Pfarrerrolle. Dies macht Runcie nicht selten mit dem typisch britischen „Tongue-in-Cheek“, was er meisterhaft beherrscht.

Was mir darüber hinaus besonders gut gefallen hat, ist, wie geschickt Runcie Fragen der Moral, Ethik und des Glaubens mit in den Roman verwoben hat, ohne die Leser zu langweilen oder gar zu belehren. Weitere Highlights sind für mich außerdem Gedichte und Zitate, die Runcie durch Chambers Faible für Literatur mit einfließen lässt. Und gleich drei meiner Lieblingsdichter und -dramatiker sind dabei: William Shakespeare, der wohl bedeutendste Dramatiker aller Zeiten (Auszüge aus Julius Caesar), Lord Byron, sagenumwobener Poet der englischen Romantik (Auszug aus seiner Elegie An Thyzra), und die amerikanische Lyrikerin Edna St. Vincent Millay mit einem ungewöhnlichen Liebesgedicht („What lips my lips have kissed…“).

Alles in allem ist Runcies neuestes Werk eine wunderbare Romankomposition, die sich aus vielen unterschiedlichen Themensteinen zu einem stimmigen, sehr lesens- und empfehlenswerten Literaturmosaik zusammenfügt.