Rezension

Wunderschön und grausam zugleich

Ein ganzes halbes Jahr - Jojo Moyes

Ein ganzes halbes Jahr
von Jojo Moyes

Bewertet mit 5 Sternen

Was für ein wunderbares, liebevolles, zärtliches und doch knallhartes Buch!

Louisa, genannt Lou, ist seit sieben Jahren mit Patrick, einem Sportfanatiker, zusammen und unterstützt mit ihrem mageren Gehalt die ganze Familie. Sie weiß im Grunde, dass sie Patrick nicht (mehr) wirklich liebt. Und dann verliert sie den Job, weil das Café geschlossen wird. Das Jobcenter bietet ihr - wie könnte es anders sein - so "geniale" Stellen wie Pole-Tänzerin oder "Kundenbetreuerin bei einem Telefonservice für Erwachsene" an, nachdem er sie tatsächlich in die Nachtschicht in einer Fabrik für Hühnerverwertung gesteckt hatte und sie eine zweitägige, sehr zwielichtige Ausbildung zur Energieberaterin machen musste. Als Alternative bliebe nur eine Stelle als Pflegekraft, doch Lou hat keine Lust, alten Menschen den Hintern abzuwischen. Dann bekommt Syed, ihr "persönlicher Berater" eine Stelle zur "Pflege und Gesellschaft für einen behinderten Mann" rein, auf die Lou sich bewirbt. Sie bekommt den Job - und dieser wird ihr Leben komplett verändern.

Lou hat es anfangs schwer mit Will, einem Tetraplegiker. Sie findet erst nach einiger Zeit heraus, dass er seiner Mutter ein halbes Jahr zugestanden hat. Nach Ablauf dieser Zeit fährt er in die Schweiz. Allerdings nicht, um dort ein neues Leben aufzubauen. Er will zu Dignitas. Ein Verein, der sich für humanes Leben und humanes Sterben einsetzt. Will kann es nicht ertragen, komplett auf Hilfe angewiesen zu sein, gar nichts allein machen zu können, ständig mit Infekten und Krankheiten kämpfen zu müssen. Er möchte so nicht leben, weil es für ihn schlicht kein Leben ist. Lou will alles daran setzen, Will umzustimmen. Dabei verändert sie sich, ohne es zu merken. Sich und Will.

Dieses Buch klingt nicht nur nach, es arbeitet in einem. Und nicht nur ein paar Minuten oder Stunden! Es beutelt, denn es verändert auch den Leser, seine Sichtweise, seine Gedanken.

Ich gebe zu - ich habe mir nie wirklich Gedanken gemacht, was alles an einer solchen Erkrankung hängt. Klar, ich fand es schlimm, mir taten diese Menschen auch leid. Aber WUSSTE ich irgendetwas, außer, dass sie bewegungsunfähig sind? Nein. Und dafür schäme ich mich! Tetraplegiker leiden. Sie haben fast immer Schmerzen. Und das ist doppelt übel - sie können sich nicht bewegen, die Muskeln sind tot - aber das Schmerzempfinden ist extrem ausgeprägt. Das Immunsystem spielt verrückt, es kommt immer wieder zu Infekten. Im Fall von Will kommt noch hinzu, dass er seine Körpertemperatur nicht selbst regeln kann, wie andere Menschen. So merkt er nicht, wenn ein Infekt im Anmarsch ist und kann nicht rechtzeitig reagieren. Es sind so viele Dinge, an die man nicht denkt, die aber den Betroffenen zu schaffen machen. Für den einen sind das Dinge, die er irgendwie gewuppt bekommt, für den anderen unzumutbare Umstände.

Ich frage mich, ob Lou und Will sich je begegnet wären, hätte Will diesen folgeschweren Unfall nie gehabt. Ich kann es mir kaum vorstellen. Nein, ich bin mir sicher, sie hätten sich nie begegnen können. So vieles wäre dann im Leben von Lou, aber auch Will, ganz anders verlaufen. Beide brauchten einander, um zu dem Menschen zu werden, den sie selbst mögen und achten können.

Ja, ich habe geweint. Aber es waren gute Tränen. Dieses Buch ist so viel wundervoller, als ich je sagen könnte. Jojo Moyes erzählt die Geschichte der beiden sehr gefühlvoll, aber keineswegs kitschig oder süßlich. Im Gegenteil. Sie schafft es, eine kühle Distanz zu wahren, um dem Leser genug Raum zu lassen, all die Emotionen und eigenen Gedanken einzubringen. Sie zeigt sowohl Wills als auch Lous Gedanken und Argumente völlig wertfrei, um den Leser nicht zu beeinflussen. Das ist wundervoll und gleichzeitig grausam, denn nun stehe ich da und bin gebeutelt und hin- und hergerissen von meinen Gefühlen. Was ist richtig? Wer hat Recht? Was soll, darf, kann man in einem solchen Fall tun?

Dieses Buch bekommt einen ganz besonderen Platz - in meiner Büchersammlung und in meinem Herzen.

Kommentare

gedankenchaotiin kommentierte am 03. November 2013 um 19:48

Eine wirkliche tolle Rezi.

Es wurde mir als Kandidat vorgeschlagen für ein Buch, welches mich zum Weinen bringt ( weil das wirklich noch KEIN Buch geschafft hat ;)) , aber bislang bin ich noch nicht dazu gekommen, es mir zuzulegen.
Nach deiner gelesenen Rezi - und ja, ich habe wirklich alles gelesen - denke ich erst recht darüber nach, es mir zuzulegen.

 

Lieben Dank für die tolle Rezi,

Yuu

Leia Walsh kommentierte am 13. Januar 2014 um 18:40

Sorry, sehe erst jetzt Deinen Kommentar!

Danke für das Lob!

Ich habe auch das Hörbuch - und kann es einfach nicht fertighören, obwohl (oder weil?) ich weiß, was geschieht.

Und ich trage noch immer die Story im Herzen und noch immer arbeitet sie in mir. Es ist wirklich ein ganz besonderes Buch und wert, gelesen zu werden.