Rezension

Wunderschöne, skurrile Familiengeschichte - Sprache als Leidenschaft

Die Erfindung der Sprache -

Die Erfindung der Sprache
von Anja Baumheier

Bewertet mit 5 Sternen

Moderne Variante der Heldenreise mit herrlich skurrilen und liebenswerten Figuren. Sprachlich eine Überraschung. Für mich sehr gelungen!

Dies war mein erstes Buch von Anja Baumheier, die bereits durch die zeitgeschichtlichen Familienromane "Kranichland" und "Kastanienjahre" bekannt ist.

"Die Erfindung der Sprache" ist allerdings etwas anderes, zwar auch eine Familiengeschichte, aber eher ein modernes Märchen. Der Klappentext konzentriert sich auf die inhaltliche Ebene, der Roman besticht aber vielmehr durch seinen ungewöhnlichen Schreibstil und eben die Sprache.

Dr. Adam Riese, 32 Jahre alt,  ist ein begnadeter Sprachwissenschaftlicher, ein Nerd der Linguistik. Allerdings tut er sich schwer in allen zwischenmenschlichen Bereichen, da ist er eher sprachlos. Zwiesprache hält mit seiner intelligenten persönlichen Sprachassistentin, seiner inneren Leuchtreklametafel und einem alten Reisekoffer. Er ist besessen von der Zahl sieben und hat zahlreiche Phobien. Das Trauma seines Lebens ist der Verlust des geliebten Vaters Hubert, der von einer Reise einfach nicht mehr auf Adams ostfriesische Heimatinsel zurückgekommen ist. Auch Adams Mutter hat diesen Verlust nie verwundet und hüllt sich seitdem in Schweigen. Eines Tages entdeckt sie in einer Buchhandlung das Werk "Die Erfindung der Sprache" und darin eine Erfindung, die einst Hubert für Adam gemacht hat. Ist Hubert noch am Leben? Ganz gegen seine Gewohnheit verläßt Adam Riese seine peinlich genau eingegrenzte Welt und macht sich auf die Suche nach seinem seit 19 Jahren vermissten Vater. Die Heldenreise beginnt.

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Kapitel der Gegenwart wechseln sich mit denen der Vergangenheit ab, in denen die Leser*innen die Lebensgeschichte von Adams Großeltern, Ubbo und Leska, deren Tochter Oda und schließlich von Adam selbst erfahren. Die Einblicke in die Vergangenheit helfen immer mehr, den Adam von heute zu verstehen.

Die Figuren sind herrlich skurril und absolut liebenswert. Besonders Oma Leska und Adam sind mir wahnsinnig ans Herz gewachsen. Aber auch alle anderen Figuren sind unglaublich liebevoll gezeichnet. Die sprechenden Namen sind nur der Auftakt. Gerade bei den Charakteren macht sich die besondere Sprache von Anja Baumheier in diesem Roman bemerkbar. Sie spielt virtuos mit der deutschen Sprache, gerade mit der Besonderheit durch Zusammensetzen von mehreren Wörtern schnell und einfach neue zu kreieren. Da ist nicht einfach ein Buchrücken grün, sondern schnittlauchgrün. Adams Sakko ist nicht einfach grau, sondern einsteingrau. (Die Varianten von grau waren schon Loriot einen Gag wert, da ging es um die 28 Grautöne einer Polstergarnitur.) Hunger ist nicht einfach groß, sondern der Hunger ist raupenimmersatt Hunger. Diese Komposita und sprachlichen Spielereien finden sich auf jeder Seite, ja fast in jedem Satz. Sprache ist das A und O in diesem Werk. Sogar der Tankstellenwart kann - völlig unverhofft - seinen Senf zur Handlung dazugeben, da er einige Semester Germanistik studiert hat. Anspielungen und Vergleiche mit Schauspieler*innen, Filmen, Filmfiguren und vor allem Autor*innen (allen voran Rilke) und ihren Werken machen beim Lesen unheimlich viel Spaß. Wer jedoch keine so große Freue daran hat, wird es wohl als eher langweilig empfinden, denn dadurch geht die Handlung natürlich nicht so flott voran, als wenn man auf diese Finessen und Neologismen verzichten würde. Manchmal ist die Autorin jedoch auch knapp an der Grenze zum Nervigen, wenn es kurz davor ist "over the top" zu sein, z.B. bei den mit Essen gefüllten Plastikdosen oder dem Ein- und Ausatmen - aber eben nur kurz davor.

Insgesamt ist der Roman für mich wie ein modernes Märchen in verspielter Sprache, denn Adam widerfahren ziemlich kuriose Dinge und die Suche nach seinem Vater gerät zu einer Art Schnitzeljagd, die extravagant und mit vielen außergewöhnlichen Zufälligkeiten gespickt ist. Das war für mich alles sehr amüsant zu lesen und ziemlich kurzweilig.

Ich kann diesen Roman allen wärmstens ans Herz legen, die gerne mit Sprache zu tun haben, sich nicht an umständlichen Wörtern oder Sätzen stören und die Märchen mögen. "[...] die Beschäftigung mit Sprache [...] Das ist unser Leitmotiv" (S. 302) 

Für diesen wirklich außergewöhnlichen und amüsanten Roman vergebe ich fünf Sterne.