Rezension

Zeitlose im Meer fließender Zeit

Bernsteinstaub
von Mechthild Gläser

Bewertet mit 4 Sternen

Irgendwoher müssen diese volksmundigen Sprüche ja ihren Ursprung haben – warum sich also die Zeit nicht als feinsten Sand vorstellen. Wie soll sie sonst zwischen den Fingern zerrinnen? Für Ophelia waren diese Sprüche bisher auch nur Phrasen. Doch seit einiger Zeit stellen sich ihr immer öfter Ströme feinen goldenen Staubes in den Weg, die nur sie sehen kann und die ihr ein bisschen Angst einjagen. Als ihre Mutter Wind davon bekommt, ruft sie die Pariser Verwandtschaft auf den Plan und plötzlich tut sich für Ophelia ein komplett neues Universum auf. In diesem entspringt sie einer der vier Familien der Bernsteinlinie und kann die Zeitströme sehen und lenken. Sie ist eine Zeitlose. In Rom unter dem Kolosseum steht der riesige Bernsteinpalast, indem die Zeit ihre Wirkung verliert und niemand altern muss. Dort wird ein großes Turnier ausgetragen. Wer das Turnier gewinnt, wird der neue Herr der Zeit – oder die Herrin der Zeit. Denn Ophelias Schwester Grete ist eine der vier Teilnehmer des Turniers, obwohl sie doch eigentlich seit über einem Jahr auf einer Musikschule in Paris lernt. Ganz viel Neues prasselt plötzlich auf Ophelia ein und immer wieder hört sie, wie der Name ihres Vaters gemurmelt wird, der vor 8 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Ophelia saß mit im Auto und niemand wollte ihr glauben, dass nicht sie auf den Baum zugerast sind, sondern der Baum auf sie zugeflogen kam. Ihr Vater war allerdings kein Zeitloser, die Fähigkeit überspringt manchmal eine Generation, dafür lernt Ophelia ihre Ururgroßmutter kennen, die nicht älter als 20 aussieht. Und dann gibt es da noch diesen wortkargen Leander, der niemanden in die Augen sieht, auch am Turnier teilnimmt und sich unter den anderen Zeitlosen im Palast einer merkwürdigen Beliebtheit erfreut, wobei er wenig erfreut davon zu sein scheint. Zu guter Letzt spielen die Zeitströme auch noch gehörig verrückt und bringen ordentlich Aufruhr in die zeitlose wie normalmenschliche Gesellschaft.

Mechthild Gläser hat einen unterhaltsamen wie spannenden Jugendroman geschrieben, in dem sie in zwei verschieden Perspektiven von einem Paralleluniversum à la Harry Potter berichtet. Es ist eine klassische Coming of Age Geschichte, die sich vor allem auf die 16jährige Ophelia fokussiert, aber auch aus Sicht Leanders erzählt, der eigentlich schon ein ganzes Jahrhundert durchlebt hat, sich aber nach außen ebenfalls wie ein rebellierender Jugendlicher präsentiert, was wahrscheinlich seiner besonderen Gabe und der Tatsache geschuldet ist, dass er der einzige und letzte seiner Bernsteinlinie ist. Ophelia erzählt aus der Ich-Perspektive und lässt den Leser durch ihre Augen auf diese fremde, wunderbare wie beängstigende Welt blicken. Der Leser versteht immer nur soviel wie auch sie versteht. Sie ist eine sympathische Figur mit einem klaren Unrechtsbewusstsein und keinerlei Machtstreben. Zweifellos wird sie die Welt retten. Die Figur des Leanders ist ambivalenter, aber nicht unsympathischer. Mir ist allerdings schleierhaft, warum er bereits so viele Jahre auf dem Buckel haben muss. Da ist mir die Anlehnung an die Twilight-Reihe ein bisschen zu offensichtlich, die dann in seiner Figur aber nicht hundertprozentig glaubwürdig zum Tragen kommt. Überzeugend aber ist die Ausgestaltung der fantastischen Welt. Die Autorin schafft in ihrem Erzählen lebendige Bilder voller Ströme, Zeitwirbel und Staubzeitfälle, dass es eine wahre Freude ist. Ihre Sprache ist einnehmend und raumgebend zugleich, perfekte Bedingungen für ein gutes Kopfkino. Und natürlich ist die romantische Stimmung zwischen den beiden Hauptfiguren der Spannung absolut zuträglich. Hier und da gibt es kleine Ungereimtheiten, aber die nehme ich gern in Kauf und bin Mechthild Gläser unheimlich dankbar, dass sie ihre Geschichte nach den gut 450 Seiten enden lässt und aus dem Plot keine drei- oder vierbändige Reihe gestrickt hat. In der aktuellen Jugendliteratur eine Seltenheit. Von meiner Seite eine klare Leseempfehlung für alle jungen und junggebliebenen Fans fantastischer Geschichten.