Rezension

Zu Literatur und Globalisierung

Erschütterungen - Norbert Niemann

Erschütterungen
von Norbert Niemann

Ein Buch, das die Bedingungen für das Erzählen in globalisierten Zeiten untersucht und viele gute Beispiele liefert.

“Und ich fragte mich immer öfter: Gibt es so etwas wie eine neue internationale Ästhetik? […] Ich habe die Aufgabe von Kunst immer begriffen als einen Akt der Annäherung an eine Gegenwart, der laufend die Sprache abhandenkommt. […] Der Hauptteil meines Essays beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Globalisierung auf das konkrete Leben der Menschen, wie sie in der erzählenden Prosa gezeigt und umgesetzt werden.“

Überschaut man die Literatur der Jahre zwischen 1500 und 1950 (in Teilen noch bis 1990) lässt sich zwar bei vielen Titeln von „Weltliteratur“ sprechen, aber die Verwurzelung der Werke in ihre nationalen Zusammenhänge (und die regionale oder übergreifend nationale Geschichte) ist in den meisten Fällen nicht von der Hand zu weisen. Kunst kommuniziert selbstverständlich seit jeher über Grenzen hinweg, negiert diese Grenzen aber nicht, sondern überwindet sie lediglich hier und dort.

Heute leben wir in globalisierten Zeiten, wo die Grenzen dabei sind, sich aufzulösen – bis auf eine wenige, die klar hervortreten: die Grenzen zwischen arm und reich zum Beispiel. Viele andere aber verschwimmen, sodass es mittlerweile schwer geworden ist, beispielsweise zwischen Mainstream und Alternative, Kunst und Kommerz, Eigenschaft oder Stigmata, Mythos und Tradition zu unterscheiden. Natürlich ist es nur „schwer“ und nicht „unmöglich“. Aber da alles irgendwie mit allem verwoben ist, droht noch die einfachste Darstellung zeitgenössischer Themen und Phänomene auszuufern oder zu scheitern.

Die Globalisierung und die damit einhergehende Vormachtstellung eines Weltmarktes, der überall auf den gleichen Prinzipien fußt, ist eben nicht nur ein Problem ökonomischer, gesellschaftlicher und sozialer Art, sondern auch eines der Literatur (vom literarischen Betrieb ganz zu schweigen). Wie gehen Schriftsteller*innen um mit einer Welt, deren Strukturen gleich geschaltet werden und die dennoch unübersichtlich und geradezu beliebig wirken. Worauf kann man noch den Schwerpunkt setzen, welches Narrativ wird diesen Zeiten gerecht? Das Narrativ der Generation? In einem der von Niemann behandelten Romane (Open City von Teju Cole) sagt ein Korea-Kriegsveteran:

„Jeder neue Krieg ist der mentale Krieg einer neuen Generation, bereits für die nächste werden die irakischen Städtenamen bedeutungslos sein. Man vergisst schnell. Fallujah wird denen ebenso wenig sagen wie Ihnen Daejon.“

Wenn die Beliebigkeit dieser Fixpunkte zu Tage tritt, taugen sie dann noch für ein Narrativ? Oder muss das Narrativ auf dem überforderten Individuum fußen? Aber lässt nicht eine solche, aufs Ich fokussierte Erzählung, die wichtigsten Themen, das große Ganze außer Acht?

Norbert Niemann begibt sich im ersten Teil des Buches auf die Suche nach den neuen Narrativen der Gegenwartsliteratur überall auf der Welt, in den Mega-Citys und der ukrainischen Pampa, in den Randgebieten und den Ballungszentren. Was er beschreibt und analytisch offenlegt, sind die Möglichkeiten der Literatur, nach wie vor die Beschaffenheit der Welt darzustellen, mit Sprache erfahrbar zu machen. Er zeigt aber auch, wie klar sie sich dafür zurückziehen muss auf die individuelle Ausprägung. Und wie sehr sie davon abgelassen hat, das große Ganze umfassend abbilden zu wollen.

“Die Stadt bringt nicht länger repräsentative Identitäten und soziale Muster hervor. Sie ist zu einer Verdichtungszone unverbunden nebeneinander existierender Realitäten geworden, die eher dadurch charakterisiert sind, dass sie die Verschmelzung zu gemeinsamen identifikatorischen und strukturellen Merkmalen beharrlich verhindern. […] Entsprechend verschoben hat sich der Akzent literarischer Darstellung: Ihr Gegenstand ist nicht mehr das Dickicht, sondern die Arten und Weisen, wie sich der Einzelne durchs Dickicht schlägt. Die Riesenstädte des 21. Jahrhunderts werden sichtbar allein aus dem Blickwinkel individualistischer Enklaven. […] Die Enklave wird zur Kernzelle serieller Subjektivität, zum Ausgangspunkt zeitgenössischer Realitätserfahrung in einer Stadtlandschaft, die den Einzelnen als Beton- und Asphaltwüste umgibt.”

Mitunter ist die Studie eine großartige Lehrstunde in literarischer Interpretation, anschaulich, inspirierend geradezu. Manchmal habe ich mich trotzdem etwas übervorteilt gefühlt. Doch es bleibt am Ende vor allem eine Flut von bestechenden Eindrücken zurück – und jede Menge Literaturtipps gibt es noch oben drauf.

Man bekommt das Gefühl, Norbert Niemann ist jemand, der sich leidenschaftlich mit Literatur auseinandersetzt und man kann vor dieser eher ehrgeizigen Studie nur den Hut ziehen, auch wenn ihr der Balanceakt zwischen freierer Essayistik und Informationsvermittlung nicht immer gelingt; vielleicht wäre hier und da eine schlichtere Darstellung auch okay gewesen.

Aber das Buch bietet nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem, was sich in der Literatur niederschlägt, sondern, im zweiten Teil, auch eine umfassende und mitunter gnadenlose Darstellung des neuökonomischen Literaturbetriebs. Literatur ist zum Gut geworden, zur Ware und hat sich von ihrer eigentlichen Funktion Stück für Stück entfremdet. Die einzelnen Entwicklungen, die dieses Phänomen betreffen, arbeitet Niemann konsequent heraus. Und endet mit einem Appell, dass sich diese Dynamik wieder ändern muss.

Fazit: ein dichtes, ein faszinierendes, mitunter etwas zu sehr in seine Durchdringungen verbissenes Buch, das ich mit viel Gewinn gelesen habe und das sich jeder, der sich mit der zeitgenössischen Literatur und ihren Möglichkeiten und Problemen auseinandersetzen will, einmal anschauen sollte.

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