Rezension

Zu persönlich aber durchaus innovativ

Was nie geschehen ist - Nadja Spiegelman

Was nie geschehen ist
von Nadja Spiegelman

Bewertet mit 3.5 Sternen

Erinnern, Erzählen, Ertragen

„Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion setzen wir selbst, und je besser wir unsere Fiktion im Griff haben, desto besser haben wir auch unsere Realität im Griff.“

 

Inhalt

 

Drei Generationen, drei Leben, drei Frauen. Verbunden durch eine gemeinsame Familiengeschichte, begibt sich Nadja Spiegelman auf eine Reise ins vergangene Leben ihrer Mutter und Großmutter. Eine Art Spurensuche, die sich damit auseinandersetzt, wie Erinnerungen auf Menschen wirken, wie unterschiedlich der gleiche Sachverhalt wahrgenommen werden kann und welche Folgen sich für das Selbstbild des Einzelnen daraus ergeben. Dabei versucht Nadja, nicht nur zu erklären, warum sie selbst sich oft nicht „gut genug“ gefühlt hat, sondern auch, warum ihre Mutter eine so disziplinierte aber kühle Frau ist und warum selbst die Großmutter Josée nichts von einer liebevollen, gütigen, älteren Frau in sich trägt. Dabei schwankt sie zwischen Traurigkeit und Akzeptanz, versöhnt mit wenigen glorreichen Momenten, mit Nähe, die durch intensive Gespräche im Erwachsenenalter einhergeht, deren Wurzeln für Unverständnis aber weit in die Kindheit hinein reichen.

 

Meinung

 

Dieser Debütroman der jungen Autorin Nadja Spiegelman, die selbst eine tragende Rolle in diesem Buch bekommt, zeichnet auf teilweise erschreckende Art und Weise ihr Leben als Tochter der New Yorker Kunstredakteurin Françoise Mouly und des berühmten Cartoonisten Art Spiegelman nach. Wobei sie nicht nur viele Details aufleben lässt, nein sie nimmt die Wesensart ihrer Mutter, später auch die ihrer Großmutter unter die Lupe und zerpflückt deren Charakter in allerhand kleine Puzzleteilchen, die erst in ihrer Gesamtheit das komplette Bild der Frauen ergeben. Dabei begreift der Leser vor allem eines: so genau, so umfassend, kann man analysieren, ohne nachtragend zu beschuldigen aber auch ohne echte Liebe zu empfinden.

 

Ich bin hier etwas zwiegespalten, denn für mich ist der vorliegende Roman ein absolut persönliches, individuelles Werk, welches durchaus innerhalb der Familie bleiben sollte, weil das Erzählte so bitter und vielschichtig wirkt, dass ich das Gefühl hatte, die Geschichte bringt möglicherweise die handelnden Personen einander näher, doch für mich als unbeteiligten Dritten ist sie eine traurige Lebens- und Liebesgeschichte zwischen den drei Frauen, die sich vielmals untereinander nicht verstehen, die sich lieben, ohne es zu vermitteln und die ein ganz diffuses Mutter-Tochter-Beziehungsgeflecht reflektieren, in dem ich keine konkrete Aussage festmachen kann.

 

Besonders störend beim Lesen empfand ich die zahlreichen Wechsel zwischen den Protagonisten. Denn obwohl Nadja ganz klar in die Rolle der Erzählerin schlüpft, wechselt doch die Person immer wieder sprunghaft und nicht klar ersichtlich. Selbst, wenn es streckenweise um Françoise geht, taucht plötzlich Josée auf, nur um dann wieder Parallelen zu Nadja zu ziehen. Immer musste ich ein paar Sätze lesen, um überhaupt wahrzunehmen, wer jetzt gerade über wen redet und in welchem Zusammenhang, mit welcher weitreichenden Bedeutung. Diese Art der Schriftführung ist definitiv nicht meins, so dass auch die Kapiteleinteilungen des Buches mehr oder weniger überflüssig waren.

 

Positiv beurteilen möchte ich aber die Mühe, die Intensität, die in jedem Satz steckt, die so generalistisch wie abstrakt wirkt und die mich hier eigentlich bei der Stange gehalten hat. Denn es werden fatalistische Dinge, wie Selbstmordversuche, Essstörungen, Depressionen und Verzweiflungstaten preisgegeben, die gerade, wenn es öffentlich gemacht wird, eine Menge Mut und absolutes Vertrauen erfordern – darin das Beziehungen nicht auf ein vorgefertigtes Maß reduzierbar sind, sondern sich wandeln können und erst im Angesicht der Wahrheit, auf allen Seiten eine neue Dimension einnehmen können. Deshalb empfinde ich diesen Roman weniger als eine Abrechnung mit der Vergangenheit und trügerischen Erinnerungen als vielmehr eine Möglichkeit, das schwer greifbare, zwischenmenschliche Interaktionsniveau wahrzunehmen und weiterzugeben. Auch der Aspekt, die Überlegung, wie wenig man normalerweise über solche Dinge nachdenkt, wie seicht und einfach Beziehungen sein können und wie aufwühlend solche, in denen eigentlich immer das Entscheidende fehlt.

 

Fazit

 

Ich vergebe 3,5 Lesesterne, die ich zu 4 aufrunden möchte für diesen äußerst individuellen, biografischen Roman, der mich oft verstört hat und ganz und gar nüchtern auf das Geschehen hat blicken lassen. Was ihm für meinen Geschmack fehlt, ist etwas Greifbares, eine Substanz, die über die Romanfiguren hinauswächst, die beim Leser in Erinnerung bleiben wird – was er hat ist eine individuelle Sichtweise, eine schonungslose Offenbarungsfreude und ein ehrlicher Blick auf menschliche Verfehlungen. Was er aufwirft, ist das Bedürfnis intensiver über die Beweggründe der allernächsten Verwandten nachzudenken und zu zeigen, wie wichtig es ist, sich in Gedanken und Gesprächen nahe zu sein, damit das Verständnis füreinander erhalten bleibt.