Rezension

zu viel gewollt

Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben
von Anika Decker

Bewertet mit 4 Sternen

Allein der Titel machte mich so neugierig, dass ich das Buch unbedingt lesen wollte, auch wenn mir der Name der Autorin auf Anhieb nichts sagte. Und die Geschichte beginnt so wunderbar spritzig und herrlich pointiert geschrieben, dass ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht durch die ersten Kapitel flog. Ich konnte mich wunderbar in Nina, die nur wenige Jahre älter ist als ich, hineinversetzen. Anika Decker entwickelt jedoch nicht einfach eine leichte RomCom, sondern bringt die gesamten Selbstzweifel, den sozialen Druck und die patriarchal geprägten Moralvorstellungen, wie eine Frau um die 50 leben und lieben sollte – und vor allem, wie nicht! – perfekt auf den Punkt. Sehr gelungen sind auch die Passagen über Ninas Schwester Lena und deren verzweifelt-unterwürfige Versuche, im Grunewalder Yogamama-BossBitches-Milieu dazuzugehören.

Leider will die Autorin dann irgendwann zu viel, und bringt neben der Age-Gap-Thematik, Altersarmut von Frauen und den schwierigen Familienverhältnissen von Lena und Nina auch noch die MeeTo-Thematik im Filmbusiness unter. Diese überfrachtet diesen Roman jedoch komplett, und die Geschichte hat inhaltlich und sprachlich die schwächsten Szenen, wenn es um die MeeTo-Sache geht. Nina und ihre Kollegin Zeynep wirken naiv, planlos und emotional gesteuert, und bestätigen damit leider klassische Vorurteile gegenüber Frauen.

Einige Figuren bleiben für mich schwer greifbar. Karin, Ninas Mutter, ist mir zu sehr „drüber“ bis peinlich, die Kinder Marie und Ben wirken seltsam blass und platt, und auch der jugendliche Lover David erscheint mir unglaubwürdig: Nicht weil er sich in eine ältere Frau verliebt, sondern hinsichtlich seines insgesamt recht unreifen Verhaltens, das mich eher an einen Teenie erinnert. Doch auch über Nina schüttele ich zunehmend den Kopf, da sie sich permanent selbst geißelt, an allem die Schuld gibt und gegenüber ihrer Familie für meinen Geschmack zu demütig auftritt. Vielleicht bin ich einfach nicht harmoniebedürftig genug, aber ich hätte hier schon viel früher klare Grenzen gezogen.

Gegen Ende scheint es, als wäre der Geschichte die Luft ausgegangen, die letzten Kapitel wirken schnell hingeschrieben, die Auflösung ist unglaubwürdig. Meine große Hoffnung, dass dieser Roman eine zwar humorvolle, aber doch differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Age Gap bieten würde anstatt oberflächlicher Antworten, erfüllt sich nicht, und die so vielversprechend begonnene Geschichte endet wie ein seichter Groschenroman.

Die erste Hälfte bekäme 5 Sterne, die zweite 3 Sterne, so dass ich insgesamt knappe 4 Sterne vergebe.