Rezension

Zu viel Tamtam

All die unbewohnten Zimmer - Friedrich Ani

All die unbewohnten Zimmer
von Friedrich Ani

Bewertet mit 3 Sternen

Anfangs hat mich die Idee sehr fasziniert. Man liest hier einen Krimi, aber der ist anders, ganz und gar vollkommen anders. 

Ja, es passiert ein Mord, der aufgeklärt werden muss, tatsächlich sogar zwei, Polizeibeamte ermitteln, Spuren werden verfolgt und Menschen befragt. Es passiert, was immer passiert, wie immer, nur wechselt von Szene zu Szene die Sichtweise. Erst erzählt der Ermittler, dann seine Assistentin, ein Passant, ein Zeuge, ein Nachbar, sogar das Opfer kommt zu Wort. Wie ein Wurm schlängelt man sich durch das Geschehen und schnappt überall ein wenig auf. Das ist so faszinierend, dass man dem Autor sogar den bisweilen leicht überspannten Erzählstil verzeiht.
Er erzählt kunstvoll und poetisch, eine Sprache, die Spaß macht, aber dann doch immer mal wieder über das Ziel hinausschießt. 
„Am liebsten hätte sie sich selbst gewatscht; für das Ungetüm ihrer ruppigen Erinnerung.“
„Sie würde durch die ausgestorbene Fußgängerzone irren, angetrunken und nüchtern zugleich, immer noch schnaufend und mit rissigen Lippen, ihr Blick in die Ferne gerichtet, wo nichts und niemand sie erwartete, in der kalten, zittrigen Faust einen Fingerhut voll abgestandener Zuversicht, wie Stunden zuvor das Weinglas.“ 

Im Verlauf des Buches verläuft sich dann allerdings die Geschichte. Es treten immer mehr Personen auf und alle haben ihre eigene Geschichte und eine Vergangenheit, die ausführlich betrachtet wird. Man ringt verzweifelt um den roten Faden, der eigentlich ganz einfach ist: Ein Mord ist geschehen, der aufgeklärt werden muss. Ursprünglich waren es sogar zwei, oder? Der erste Mord bleibt auf der Strecke, vielleicht diente er auch nur zur Illustration.
Friedrich Anis Figuren sind vielschichtig und bilden einen plastischen Querschnitt durch die deutsche Bevölkerung. Es ist alles dabei von links nach rechts, der autoritäre Vater mit rechtslastigen Idealen, syrische Migranten, eine Pennerin mit Herz oder auch ein ausgedienter Alleinunterhalter sind ein paar davon aber noch längst nicht alle. Dazu blickt man noch in das Leben aller Ermittler, die je in seinen Romanen vorkamen, was Kennern des Autors sicher Spaß macht. Mir war es zu viel. Auch wenn hier jede Figur liebevoll angelegt und originell ist, sind es einfach zu viele, zu viele Menschen, zu viele Schicksale, die vom eigentlichen Geschehen ablenken. Die mutmaßlich geplante Botschaft über „All die unbewohnten Zimmer“, die Menschen in Syrien zurücklassen, wirkt bemüht, fast schon deplatziert. 

Dieses Buch ist ein Krimi, der sensationell innovativ hätte werden können, dann aber in zu viel Tamtam unterging. Schade, der Kern war gut, nur Schale zu hübsch, um ihn zu finden. 

Kommentare

wandagreen kommentierte am 23. Juni 2019 um 08:38

Der Fingerhut voll abgestandener Zuversicht wird meine Lieblingsphrase. Sie sollte als Anschauungsmaterial in der Kreativsschreibwerkstatt verwendet werden.

Schöne Rezension, die zeigt, wie selbstverliebte Schriftstellergockel sich selbst demontieren. Schriftstellertrost: es merkt nicht jeder.