Rezension

zum "unbedingt-öfter-lesen"

Vom Ende einer Geschichte - Julian Barnes

Vom Ende einer Geschichte
von Julian Barnes

“Geschichte ist die Ungewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen.”

Wie wurden wir zu dem, was wir heute sind?

Wie wahr ist unsere Vergangenheit, unsere Erinnerung daran oder das, was wir dafür halten?

Tony Barnes, der sein Arbeitsleben bereits hinter sich gelassen hat und in seinen wohlverdienten Ruhestand starten will, wird durch eine unerwartete Erbschaft plötzlich  gezwungen, sich mit seiner Vergangenheit oder vielmehr mit dem, was er bisher dafür hielt, auseinanderzusetzen. Ihm, der wie er im Laufe der Geschichte selber feststellen muss, dem das Leben und seine Besonderheiten immer irgendwie passiert sind, der sich mit den Entwicklungen  immer nur arrangiert hat und sich den Gegebenheiten nur zu gerne fügte. Dabei stellt er sich die Frage, “ob und in welchem Maße die eigene Geschichte und vor allem die Erinnerung daran wahrhaftig sind und ob denn Erinnerungen sich mit der Zeit zu Gewissheiten verdichten können?”

Langsam reift in ihm die unangenehme Erkenntnis,  dass seine Art, sich an seine Vergangenheit zu erinnern, möglicherweise weit entfernt von dem sein könne, was tatsächlich passiert ist. Er kommt ins Grübeln und muss sich, teilweise beschämt, eingestehen, dass er sich aus Angst, Bequemlichkeit und Egoismus sein Leben an bestimmten Punkten einfach schöner „verwahrheitet“ hat, als es im Grunde gewesen ist.

Das Buch wirft Fragen auf, die sich jeder von uns in ähnlicher Weise schon irgendwann einmal gestellt hat. In leisen Tönen und auf unspektakuläre Weise dringen die Fragen in unser Innerstes vor, lassen einen etwas unbehaglich auf dem Stuhl herumrutschen und mehr als einmal habe ich mich dabei ertappt, nach eigenen Leichen im Keller zu suchen… Das Gefühl dabei ist – nun, ungemütlich.

Man begleitet Tony bei seinem Erkennen, dass es  nicht angenehm ist, feststellen zu müssen, in der Vergangenheit Fehler gemacht zu haben – ohne auch nur ansatzweise den Versuch unternommen zu haben, diese aus der Welt zu räumen, Konsequenzen zu ziehen oder die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Im gesamten Buch kam es mir vor, als habe der Autor jede Zeile, jeden Satz gezielt darauf ausgelegt, uns mit seiner ruhigen Sprache einzulullen, die tiefen Wahrheiten hinter den schön erzählten Sätzen freundlich zu verpacken, nur damit deren Bedeutung uns umso unvermittelter von hinten anfallen und sich in unserem Hinterkopf festsetzen kann. Manchmal schien es mir, als lauerte hinter jedem Satz eine zweite Bedeutung, eine Tür, hinter der eine neue Frage oder Erkenntnis nur darauf wartet, entdeckt zu werden.

„Vom Ende einer Geschichte“  gehört vermutlich zu den Büchern, die mehrmals gelesen werden müssen, weil sich jedes Mal eine neue Perspektive öffnet, jedes Mal eine neue Dimension erlesen werden kann.