Rezension

Zum zweiten Mal Familie

Vati
von Monika Helfer

Bewertet mit 3.5 Sternen

Ein Mann mit Beinprothese, ein Abwesender, ein Witwer, ein Pensionär, ein Literaturliebhaber. Monika Helfer umkreist das Leben ihres Vaters und erzählt von ihrer eigenen Kindheit und Jugend.

Eindrucksvoll macht Helfer wieder klar: Es wird niemandem je gelingen, einen anderen Menschen in- und auswendig zu kennen. Immer besitzt der andere weiße Flecke, die ihm allein gehören. So bleibt der Vater, der ohnehin gern zurückgezogen umgeben von Büchern lebt, zeitlebens ein Rätsel, und die Tochter setzt sich aus eigenen Erinnerungen, Gesprächen mit Geschwistern und Verwandten ein Bild zusammen – ein Bruchstück mit Rissen und freien Stellen.

Während sie bei „Die Bagage“, dem Vorgängerband, der sich mit der Geschichte der Großeltern mütterlicherseits beschäftigt, die Passagen, die im dunklen liegen, an die sich niemand erinnert, mit angedeuteter Fiktion füllt oder offen zugibt, Hörensagen zu verarbeiten, bemüht sie sich in diesem Buch eher um getreue Abbildung der Realität. Auf der einen Seite sieht sie den Vater durch das Auge der Tochter, klar, davon kann sie sich nicht lösen, auf der anderen Seite versucht sie, ein authentisch-objektives Bild zu vermitteln.

Nahe kommt der Vater dem Leser nicht. Weil er der Tochter nicht die Nähe gibt, die sie sich wünscht? Oder weil sie eine Kluft empfindet, hervorgerufen von dem Gefühl, in ihrer schmerzlichsten Zeit allein gelassen, abgeschoben worden zu sein?

Wobei: Helfer klagt nicht an, sie macht keine Vorwürfe, sie erzählt, mehr nicht. Um die Emotionen, die dahinter stecken, die Verzweiflung über den Tod der Mutter und die Trennung der Geschwister voneinander und vom Vater weiß der Leser; wohltuend, dass die Autorin ihm diesen Part zutraut.

Ihr Schmerz tritt offener zutage, wenn sie den Tod ihrer Tochter Paula erwähnt und ganz knapp ein paar Erinnerungen erzählt.

Das Cover stammt ebenso wie das des ersten Bandes von Gerhard Richter aus seinen übermalten Fotografien. Inhaltlich lässt sich eine Beziehung herstellen: Ein reales Bild, das durch die Zeit, die verschiedenen Lesarten der Erinnerungen und die Zweifel am eigenen Gedächtnis verschwimmt.

Ein sehr gutes Buch, das auf mich allerdings nicht den Sog von „Die Bagage“ ausübt.