Rezension

Zusammenhangloses Potpourri

Gehen. Weiter gehen - Erling Kagge

Gehen. Weiter gehen
von Erling Kagge

Bewertet mit 2.5 Sternen

Erlin Kagge ist zum Nordpol gegangen, zum Südpol, und – was ich am extremsten finde – durch die New Yorker Kanalisation. Hier ist er durch Fäkalien und Kakerlaken nicht nur gewatet, nein, auch gekrochen. Er hat also auf jeden Fall einiges erlebt bei seinen Wanderungen, und es finden sich auch durchaus kluge Bemerkungen und interessante Geschichten in diesem Buch. Am besten hat mir noch gefallen, dass er Maurice Merlau-Ponty aufgreift, der sich gegen den kartesischen Leib-Seele-Dualismus ausgesprochen hat: Wir sind nicht ein Bewusstsein, das zufällig in einem Körper ist oder gar einen Körper besitzt. Wir sind vielmehr unser Körper und durch unseren Körper, dessen Bewusstsein und Erfahrungen sind von ihm nicht zu trennen (in der aktuellen Philosophie spricht man von „embodiment“). Beim Gehen, so Kagge, wird uns die Künstlichkeit dieser Trennung klar; ebenso wie die Trennung von Mensch und Natur als illusorisch erkannt werden kann.

Ansonsten finden sich einige erwartbare Dinge wie: Gehen ist gesund, Sitzen eher nicht so. Menschen gehen an vielen verschiedenen Orten und zu verschiedenen Gelegenheiten. Dabei werden Gedanken an Zitate an Anekdoten gereiht, ohne dass es einen erkennbaren Zusammenhang gibt; höchstens eine lose assoziative Verknüpfung. Entsprechend gibt es auch kein Inhaltsverzeichnis, es fehlt einfach an jeglicher Gliederung. Das ist für mich eher eine erste Sammlung von Notizen, aber definitiv nicht buchreif. Einige davon sind durchaus interessant; der Autor bleibt aber immer an der Oberfläche, statt einem Gedanken mal wirklich konsequent zu folgen und ihn auszuarbeiten.

Wenn es überhaupt so etwas wie eine übergeordnete These oder ein Leitmotiv gibt, dann wohl, dass das Gehen ein Gegengewicht zur Konsumgesellschaft darstellt, die es immer möglichst bequem und schnell haben will. Gehen also als Subversion und Protest.

„Es ist für Regierungen und Firmen leichter, uns zu kontrollieren, solange wir sitzen.“ (82)

Weil wir nämlich zum Beispiel gehend, bzw. marschierend, gegen Regierungen demonstrieren. (Wer übrigens noch geht, bzw.  marschiert, sind Soldaten; also ist das Gehen nach dieser Logik für alle Kriege verantwortlich?)

Diese These des Gehens als Gegengewicht gegen den Konsum (oder das extreme Wandern als Hilfsmaßnahme gegen die Übersättigung und Langeweile), finde ich sehr fragwürdig. Seine Wanderungen, so Kagge, haben ihn „überzeugt, dass das Beste im Leben umsonst ist“. Das ist es aber eben nicht. Vielmehr kann man sich solche Touren überhaupt nur unter bestimmten Voraussetzungen erlauben: dass man beispielsweise Freizeit hat und nicht permanent arbeiten muss, um sich und seine Familie irgendwie über Wasser zu halten, dass man eine solche guten Gewissens eine Weile zurücklassen kann, weil man in einem friedlichen, demokratischen Land lebt, usw. Viele Menschen auf der Welt gehen tatsächlich sehr viel, einfach weil sie keine Wahl haben. Weil sie anders nicht zur Arbeit kommen, weil die nächste Schule 15km entfernt ist.

Andererseits gibt es auch Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht gehen können. Setzt Kagge das Nicht-gehen anfangs noch mit Tod und Verfall gleich, sagt er deshalb später, es geht einfach um die Bewegung. Nach einer kurzen Episode mit einem Rollstuhlfahrer wird dann gesagt, worum es geht, ist die Welterfahrung, nicht, wie man sie macht. Das scheint mir widersprüchlich, wird aber einfach so unkommentiert nebeneinandergestellt.

Ich gehe selber wirklich gern und viel, das war immer meine liebste Art der Fortbewegung; dabei kann ich am besten denken, und auch am besten nicht denken. Deshalb hatte ich mich wirklich auf das Buch gefreut – und war dann von der Oberflächlichkeit und Strukturlosigkeit enttäuscht. 2,5 Sterne.