Rezension

Zutiefst originell und lyrisch

Die Stadt der verbotenen Träume - Emmi Itäranta

Die Stadt der verbotenen Träume
von Emmi Itäranta

Bewertet mit 5 Sternen

Vor der Aufgabe, dieses Buch zu beschreiben, stehe ich ein wenig hilflos.

Es gibt Bücher, die definieren sich durch eine brillant konstruierte Handlung, welche sich von A bis Z spannend und unterhaltsam abspult. Andere überzeugen durch schiere Originalität oder durch lebensechte Charaktere, und man kann genau den Finger darauf legen und sagen: Ja, das ist es. Das macht dieses Buch so besonders.

Und damit will ich keineswegs sagen, dass "Die Stadt der verbotenen Träume" diese Eigenschaften nicht besitzt – nur liest es sich wie ein flüchtiger Traum, der kommt und geht. Motive tauchen auf und verschwinden wieder, Dinge erscheinen jäh in einem völlig anderen Licht... Vieles bleibt offen, es gibt nur wenig klare Struktur, alles ist in der Schwebe. Zwischendrin springt die Perspektive von der Ich-Erzählerin zu einer Stimme, bei der man lange nicht einmal einordnen kann, was für eine Art von Wesen da überhaupt spricht.

Ich denke, mein Problem wird langsam deutlich? Denn das klingt völlig falsch: verworren, ermüdend, vielleicht sogar langweilig – dabei habe ich dieses Buch geliebt wie schon lange keines mehr. Aber noch mal von vorn.

Die Welt dieses Buches ist zutiefst originell, aber die Autorin verzichtet darauf, sie dem Leser bis ins kleinste Detail zu erklären, was zum Teil daran liegt, dass auch die Hauptperson ihre Welt nicht komplett begreift. Die Menschen sind sehr gebunden an die Strukturen des Systems, in dem sie leben und werden nicht unbedingt ermutigt, Dinge zu hinterfragen. Nicht einmal im Traum sind sie frei, denn die Fähigkeit, zu träumen, gilt als ansteckende, lebensgefährliche Seuche. Ertappte Träumer verschwinden. Wohin? Wieso?

Der Leser begleitet Eliana dabei, wie sie beginnt, das herauszufinden – und dabei entdeckt, dass sie bisher gerade mal die Spitze des Eisbergs gesehen hat.

Für mich war die Geschichte unglaublich spannend, aber es ist in meinen Augen keine handlungsgetriebene Spannung. Zwar passiert einiges – aber es war Elianas Entwicklung, die mich so ungemein gefesselt hat. Nicht nur, dass sie anfangs vor dem Leser (und sich selbst) einiges versteckt, sie entwickelt schnell eine ungeahnte Tiefe. Dabei begeht sie durchaus gravierende Fehler, zum Teil mit tragischen Konsequenzen, aber es gab nie einen Punkt, an dem ich sie nicht gerne jeden Schritt des Weges begleitet hätte. Die Geschichte ist sehr fokussiert auf Eliana, deswegen bleiben andere Charaktere zwangsläufig etwas blasser, aber auch diese fand ich gut geschrieben. Besonders beeindruckt war ich davon, wie lebendig die Autorin den Charakter der Valeria beschreibt, obwohl diese stumm ist.

So ganz nebenher ist das Buch übrigens ein wunderbares Beispiel dafür, dass Diversität etwas sein kann, was ganz selbstverständlich in die Handlung einfließt. Aber darüber möchte ich jetzt ungern mehr sagen, um nicht schon zu viel zu verraten.

Die wahre Offenbarung an diesem Buch war für mich jedoch der poetische Schreibstil. Ich habe es teils auf Deutsch gelesen, teils auf Englisch gehört und kann nur sagen: die deutsche Übersetzung ist ganz sicher nicht schlecht, aber ich würde dennoch wärmstens empfehlen, das Original zu lesen. (Allerdings ist die Sprache für Anfänger vielleicht nicht ganz so einfach.)

Hier mal zwei Beispiele für den Schreibstil in Englisch und Deutsch:
In the fire that is slower than flames she stays awake, and when sleep takes her, it carries her between unravelling walls, behind darkness-holding doors, over creaked floors, in the rifts of which black water rushes. It hands her words hidden within covers, in which everything is inscribed, but the writing escapes her, and still she turns away. She wants the floors to be unbroken, she wants the walls to be whole again.
Die Wände sind Schleier und Garn, doch die Tür ist aus festem Holz. Sie ist einen Spaltbreit geöffnet, und hinter ihr liegt tiefe, dichte Dunkelheit. Auf der anderen Seite ist ein rasselndes Geräusch zu hören, als würde dort jemand atmen. Ich drehe mich um. Die Spinnseidenwände schließen sich vor mir zur Sackgasse. Als ich mich ihnen nähere, glaube ich das Zischen von Worten zu hören, und hinter den Wänden spüre ich viele ineinander verflochtene Einsamkeiten.   
So oder so hat Emmi Itäranta eine hypnotische Sprachmelodie. Sie bedient sich sehr ungewöhnlicher, überraschender Bilder und Metaphern, die sich dabei perfekt einfügen in die dichte Atmosphäre. Ich habe oft innegehalten und Sätze mehrmals gelesen. Die Sprache kann einem schllichtweg die Sprache verschlagen.

Das englische Hörbuch ist einfach ein Gedicht, die Sprecherin, Aysha Kala, erweckt diese Welt beeindruckend zum Leben.

Das Ende wird vielleicht nicht allen Lesern liegen: es ist in meinen Augen weniger ein klar definierter, unzweifelhafter Abschluss, sondern vielmehr eine Grundlage für zukünftige Möglichkeiten, die für Interpretation offen sind.

Fazit:
Es ist schwierig, dieses Buch einem einzigen Genre zuzuordnen, aber am ehesten ist es noch zwischen Dystopie und Fantasy angesiedelt. So oder so ist es unglaublich originell und bedient kein einziges der üblichen Klischees!

Es spielt in einer Welt, in der Träumen nicht nur verboten ist, sondern die Fähigkeit dazu sogar als lebensgefährliche Seuche gilt, die auszurotten ist. Hier trifft die junge Weberin Eliana auf die schwerverletzte Valeria, der jemand die Zunge herausgeschnitten hat – und die aus unerfindlichen Gründen Elianas Namen als Tätowierung auf der Handfläche trägt. Wie sich die Geschichte weiterentwickelt ist immer wieder unerwartet und hat mich vor allem durch einen ungewöhlichen lyrischen Schreibstil beeindruckt. 

Vor allem aber stellt Emmi Itäranta die Erwartungen des Leser immer wieder von neuem auf den Kopf, mit (alb)traumhaften Passagen und eingeschobenen Sequenzen, die sich zunächst keinem bestimmten Charakter zuordnen lassen. Man muss der Geschichte Zeit geben, sich zu entfalten, und sich darauf einstellen, dass vieles offen bleibt – aber in meinen Augen lohnt sich das.