Rezension

Zwischen extremer Verwahrlosung und Apokalypse

Bungalow
von Helene Hegemann

Bewertet mit 3 Sternen

Nach den ersten Kapiteln habe ich dieses Buch gehasst.

Klingt nach einer Übertreibung, doch tatsächlich verspürte ich ein Gefühl fast schon körperlichen Widerwillens. Ich wollte die Geschichte nicht weiterlesen, ich fand sie unsäglich überzogen und bemüht schockierend – einerseits eine Bestätigung für das oft vertretene Vorurteil, Buchpreise würden nur pseudointellektuelles Blahblah honorieren, andererseits wie übelstes Trash-Fernsehen in Buchform.

Kurz davor, das Buch abzubrechen, erinnerte ich mich plötzlich an eine Rezension von Frank O. Rudkoffsky, die mit ähnlichen Vorbehalten beginnt:

Zitat Frank O. Rudkoffsky:
“Nach dem Klappentext erwartete ich eine prekäre Coming of Age-Geschichte vor dem Hintergrund einer drohenden Apokalypse, nach den ersten paar Dutzend Seiten jedoch eher einen bemüht krassen Roman, der zwar bedeutungsschwanger daherkam, am Ende aber wenig Substanz hatte. Kurzum: Ich erwartete meinen ersten Verriss als Buchpreisblogger. (…) Die Erzählhaltung wird erst schlüssiger, als sich die Perspektive auf Charlies eigenes Leben verengt – und der Roman zu meiner Überraschung plötzlich richtig gut wird.”

Ach ja, richtig. Da war ja was.

Da hatte ich sogar einen Kommentar hinterlassen: “Ich werde diese Rezension im Hinterkopf behalten, falls ich im ersten Teil verzweifeln sollte.”

Mit neuer Hoffnung las ich weiter.

Ich kann den Finger nicht auf die exakte Stelle im Buch legen, an der es geschah, aber auf einmal verschob sich etwas in meiner Wahrnehmung, wie bei einem Stereogramm. Was mir eben noch flach und aufgesetzt erschien, kam mir auf einmal so gnadenlos authentisch vor, dass ich richtig erschrak.

Das Buch spart nicht mit Sex, Schleim, Blut und Kotze, und mit einem Mal wirkte das wie mitten aus dem Leben gegriffen.
Allerdings ist es kein schönes Leben: Charlie, die jugendliche Protagonistin, durchlebt eine elende Kindheit, die geprägt ist von Alkohol, Drogen und Gewalt, Hunger.

Dazu kommt, dass ihre Realität beinahe die unsere ist, aber mit einem deutlich apokalyptischen Element: überall liegen die Kadaver toter Tiere, ein nicht näher erklärter Krieg dräut am Horizont, die Ozonwerte erreichen tödliche Ausmaße, so dass die Menschen nur nachts ihre Häuser verlassen können. Da verwundert wenig, dass sich die Verzweifelten zu Hunderten umbringen.

Die Autorin erklärt jedoch nicht, wie es so weit kommen konnte.

Vieles von dem, was Charlie in ihrem Überlebenskampf erlebt, liest sich so realistisch, dass es hier und heute geschehen könnte, Stoff für eine Doko-Soap am sozialen Brennpunkt. Die Apokalypse hingegen bleibt unspezifisch und verzichtet weitgehend auf die Gesellschaftskritik, die normalerweise mit Dystopien einher geht.

Gibt es die Apokalypse überhaupt, oder ist sie nur Sinnbild für den ständig drohenden Untergang von Charlies persönlicher kleiner Welt?

Dass sie nur grob umrissen wird, lässt beide Deutungen zu.

Charlie ist ein komplexer Charakter voller Brüche und scheinbarer Widersprüche: kratzbürstig und verletzlich, unschuldig und sexuell frühreif, grausam und mitfühlend. Mit jedem Kapitel gewinnt sie mehr an Tiefe – sofern sich der Leser auf sie einlässt.

Möglicherweise ist nicht alles, was sie erzählt, die Wahrheit. Möglicherweise glaubt sie dennoch selber daran.

Und im Grunde spielt es auch keine Rolle, denn sie hat eine starke Präsenz, der man sich als Leser nach der anfänglichen Durststrecke nur schwer entziehen kann.

Manchmal wird ihre Geschichte allerdings doch wieder zu schrill, zu bleischwer deprimierend, zu ekelhaft, da geht das Authentische verloren, und welchem Zweck dient das? Ich hatte oft das Gefühl, das hier mehr gewollt als tatsächlich erreicht wird, auch wenn die Sprache immer wieder eine grandiose emotionale Wucht erreicht.

Die anderen Charaktere erschienen mir wie reine Projektionsflächen für Charlies Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse.

Georg und Maria sind jung, glamourös und wohlhabend, sie feiern laute Parties und leben in einem schicken Bungalow, der Welten entfernt ist von Charlies verranzter Sozialwohnung. Nach intensivem Stalking gelingt es dem Mädchen, sich in ihr Leben zu zwängen – aber das könnte auch nur ein Wunschtraum sein.

Ein interessanter Schachzug ist, dass Charlie ihre Geschichte im Rückblick erzählt.

In einer ungewissen Zukunft hat sie sich ein Leben und eine Familie aufgebaut, worauf die Geschichte aber nicht näher eingeht.

Sie bedient sich der zornigen, rotzigen Sprache ihres kindlichen Ichs, man spürt man aber dennoch, dass sie sich aus der Perspektive einer Erwachsenen heraus erinnert. Charlie wird also nicht an einer Überdosis oder im Krieg sterben, und dieses Wissen erlaubt es dem Leser, mit der Geschichte abzuschließen, obwohl tatsächlich alles offen bleibt.

FAZIT

Helene Hegemann erzählt von einer Kindheit irgendwo zwischen extremer Verwahrlosung und Apokalypse. Das erschien mir zunächst zu laut, zu schrill, zu oberflächlich, zu gewollt schockierend… Nach 47 Seiten kriegt die Geschichte doch noch halbwegs die Kurve, aber an diesem Punkt haben viele Leser wahrscheinlich schon aufgegeben.

Nach der Kurve wird das Buch gut, aber es hat immer noch deutliche Schwächen – die jugendliche Protagonistin kann mit intensiver Präsenz allerdings vieles wieder rausreißen.